Tag 36
Fatima fiel es schwer,
sich zu beherrschen. Sie starrte in das lachende, glückliche Gesicht ihrer
Stiefschwester, während sie frühstückten, und wollte ihr am liebsten das
Buttermesser ins Auge rammen. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete sie Nina
und suchte ihren Blick, in der Hoffnung ihr wenigstens ein bisschen Angst
einzujagen.
Doch Nina schien Fatima
gar nicht wahrzunehmen. Munter plauderte ihre Schwester über ihr Wochenende und
schien sich nichts dabei zu denken. Falls die überhaupt denkt!, schoss es
Fatima durch den Kopf. Sie umklammerte den Henkel ihrer Tasse und atmete den
Geruch ihres Tees ein. Die Fröhlichkeit ihrer Familie, die Enge des
Frühstückstischs drohte sie zu ersticken, sie endgültig in den Wahnsinn zu
treiben. Mit geschlossenen Augen zählte sie bis zehn, um sich in den Griff zu
bekommen und stand auf. Betont ruhig, damit ihre Familie nichts merkte, verließ
sie das Esszimmer. Die Fäuste geballt, lehnte sie sich im Flur an eine Wand.
Wie gern würde sie ihrer Stiefschwester ins Gesicht schlagen! Mit grimmiger
Befriedigung dachte sie an das Messer in ihrer Schreibtischschublade. Sie würde
ihre Rache bekommen! Sie würde Nina zeigen und spüren lassen, dass sie sich
nicht einfach an ihrem Mann vergreifen konnte!
Leo gähnte, während sie
der Kaffeemaschine in der Brecht-Cafeteria beim Arbeiten zusah. Neben ihr stand
Jen, die Hände in den Hosentaschen vergraben, das Gesicht mürrisch und schlecht
gelaunt.
»Jetzt guck doch net so
angepisst! Davon wird’s halt au‘ net besser! Da müss’n wa nu durch. Aber Kopf
hoch, nach zehn Minuten sin‘ wa da durch.« Leo verzog das Gesicht, als ihr
auffiel, wie sehr sie wieder in den schwäbischen Dialekt verfiel.
»Was’n mit dir los?
Seit wann schwätzt du denn?« Jen starrte ihre Freundin fragend an. Ihre Gesichtszüge
spiegelten eine amüsante Mischung aus mieser Laune und Verwirrung wider,
weswegen Leo zu kichern begann.
»Das ist ein
Nebeneffekt von Müdigkeit, wenig Koffein im Blut und seltsamerweise relativ
guter Laune.« Leo steckte mit routinierten Bewegungen ihren Studentenausweis in
den vorhergesehen Schlitz, stellte einen zweiten Becher unter die Maschine und
drückte den Knopf für Milchkaffee. Mit einem ungeduldigen Grunzen drückte sie
einen Deckel auf den schwarzen Kaffee für Jen und drückte dieser den Becher in
die Hand.
»Du bist wie’n Roboter!
Mein persönlicher Kaffee-Roboter!«
Leo hob eine
Augenbraue, erwiderte aber nichts darauf.
Jen schüttelte sich,
hielt den Becher fest umklammert und sah sich um. »Ich hab absolut keine Lust
auf dieses dämliche Referat!«
»Ja, komm. Wir ziehen
das easy peasy durch und dann war’s das. Ich mach mir da keinen Stress. Gibt
nur graue Haare und Falten und so Scheiß.«
»Ja, und man sieht dir
dein Alter ja so schon an. Wie schrecklich wären da dann noch Falten und graue
Haare!« Jen lachte, als sie Leos verdrießliche Miene sah.
»Komm du mal in mein
Alter!« Leo schnappte sich ihren Kaffeebecher und ging kopfschüttelnd nach
draußen, um noch eine Beruhigungszigarette vor dem Referat zu rauchen. Ich hasse es, vor anderen zu sprechen! Ich
hasse es, im Mittelpunkt zu stehen! Unauffällig angelte sie eine ihrer
Tablettendosen aus der Tasche und schluckte verstohlen ein Beruhigungsmittel.
»Wenn Dan nicht
auftaucht, schneid ich ihm die Eier ab!«, erklärte Jen in diesem Moment.
»Warum sollte er denn
nicht kommen?«, fragte Leo.
»Na, der wird sich mit
Nina das Hirn rausvögeln, was glaubst du denn?«
»Quatsch. Dafür is’er
zu sehr Theologie-Student.« Leo zwinkerte Jen zu. »Das wird schon, irgendwie.
Und wenn nicht, is‘ auch egal.«
Dan streckte sich.
Suchend tastete seine Hand über das Nachtkästchen, um nach dem Wecker zu
greifen, doch überraschte fühlte er die Schnur eines Telefons. Verschlafen und
reichlich verwirrt setzte er sich auf und rieb sich die Augen. Wo bin ich? Der
Platz neben ihm war frei. War Nina etwa gestern Nacht nach Hause gefahren?
Gegen das hereinfallende Sonnenlicht blinzelnd warf er einen Blick auf die Uhr.
Entsetzen breitete sich in ihm aus. Scheiße!
Ich hab total verschlafen! Und ich muss noch auschecken! Hektisch sprang er
aus dem Bett und suchte seine Klamotten zusammen. Mit fahrigen Bewegungen
packte er seine Sachen und eilte zur Rezeption. Er musste ja noch das Zimmer
bezahlen. Im Aufzug fiel es ihm dann plötzlich ein: Heute müsste er eigentlich
mit Jen und Leo ein Referat halten. Er schluckte. Es war, als würde er für die
begangene Sünde mit Nina nun bestraft werden. Mit einem Stöhnen vergrub er sein
Gesicht in den Händen.
***
Fatima beobachtete mit
Argusaugen, wie ihre Schwester zu ihren Freunden hinüber ging und mit diesen
rauchte. Sie kannte die beiden jungen Frauen, bei denen Nina stand. Leonora und
Jennifer. Beide waren mit ihr in Mediävistik und beide rissen immer wieder
dumme Witze über sie. Fatima kniff die Augen zusammen. Die beiden sind nach meiner Schwester dran! Ich werde ihnen allen
zeigen, was es heißt, mich zu verärgern! Fatima ballte die Hände zu
Fäusten. Ihre Fingernägel gruben sich ins Fleisch und sie spürte, wie sie zu
bluten begann.
»Na, wen haben wir denn
da?« Jen stieß Leo in die Seite und wackelte vielsagend mit den Augenbrauen,
als Nina zu ihnen trat. Leo grinste und nahm einen Schluck Kaffee.
»Guten Morgen, ihr
zwei. Na, seid ihr bereit für euer Referat?« Nina wirkte für die frühe Uhrzeit
ungewöhnlich fröhlich und glücklich. Leo und Jen wechselten einen Blick und
grinsten sich an. Nothing more to say, ne?, dachte Leo und schwieg breit
grinsend. Nina kniff die Augen zusammen und sah ihre Freundinnen misstrauisch
an.
»Jetzt guck nicht so,
als hättest du Verstopfung! Wir wissen über dein kleines Techtelmechtel mit Dan
Bescheid. Und wir freuen uns für euch. Aber wenn dein Mann hier nicht
auftaucht, kastrier ich ihn. Also entweder betest du, dass er dich dieses
Wochenende geschwängert hat und freundest dich mit dem Gedanken an, dass er
keine Kinder mehr zeugen wird oder du betest, dass er hier noch auftaucht.« Jen
trat ihre Zigarette aus. Ninas Kinnlade fiel herunter. Leo brach in hustendes
Lachen aus.
»Was denn?« Jen schien verwirrt
zu sein, doch sie zwinkerte Leo zu, die vor Lachen fast schon weinte. Nina
stöhnte und lief rot an. Tja, wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht
zu sorgen, dachte Leo. Sie warf einen Blick auf die zutiefst beschämte Nina und
bekam Mitleid mit der Freundin.
»Nicht, dass du jetzt
denkst, wir freuen uns nicht für euch zwei. Wir finden das sogar richtig
klasse. Aber du musst halt jetzt damit leben, dass wir dich damit aufziehen,
dass du den jungfräulichen Priester in Versuchung geführt hast.« Leo verkniff
sich mit aller Macht ein breites Grinsen und bemühte sich um eine ernste Miene.
Jen brach in wieherndes Gelächter aus, während Nina mit hochrotem Kopf ins
Gebäude flüchtete.
»Jetzt wissen wir ja
immer noch nicht, ob Loverboy kommt.« Jen trat ihre Zigarette aus.
»Der wird schon
auftauchen. Loverboy hat doch auch noch eine ordentliche Portion Streber intus.
Der wird sich doch nicht die Möglichkeit entgehen lassen, als Klugscheisser zu
glänzen.«
»Dein Wort in Gottes
Ohren!«, murmelte Jen. Gemeinsam betraten sie den Brecht-Bau und suchten den
Seminarraum auf.
***
Charly saß mit
hängenden Schultern auf ihrem Platz und wünschte sich weit weg. Sie fühlte sich
unwohl, sie wollte wieder zurück zu Leo. Dort fühlte sie sich sicher, es wusste
niemand, dass sie dort war. Hier, in der Uni, fühlte sie sich beobachtet, ihrer
Peinigerin ausgeliefert. Nervös rieb sie sich den Nacken. Was, wenn sie Fatima
begegnen würde? Ob ich zur Polizei gehen
sollte? Leo hatte ihr davon abgeraten. Sie erinnerte sich an den
entschlossenen Gesichtsausdruck ihrer Freundin, als diese ihr versichert hatte,
sich an Fatima zu rächen. Und wenn Charly ehrlich war, konnte sie Fatima sogar
ein bisschen verstehen, auch wenn diese ihre Welt ein stückweit zerstört hatte.
Ihr Blick wanderte zu Nick. Wie gern wäre sie von ihm gerettet worden! Aber vielleicht sollte ich ihn mir doch aus
dem Kopf schlagen, so wie Jen gemeint hat. Charly verzog unwillkürlich das
Gesicht, als sie an die eindringlichen Worte dachte, die ihr Jen mehr oder
weniger unvermittelt an den Kopf geworfen hatte. Reine Zeitverschwendung hatte
diese ihre Schwärmerei für Nick genannt. Kindisch, unreif und absolut sinnlos –
so hatte Jen Charlys Verhalten bezeichnet. War sie denn noch nie verliebt
gewesen? Charly schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht über Nick oder Fatima
nachdenken. Sie wollte sich einfach wieder sicher fühlen.
Leo fuhr sich mit einer
fahrigen Bewegung durch die Haare. Nervös biss sie auf ihrem
Unterlippenpiercing herum und hielt die Tür im Blick. Wo zum Teufel bleibt
Loverboy? Ihr Herz schlug schnell, sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach.
Leo fluchte verhalten. Sie hasste es. Sie hasste ihren Körper und die
Reaktionen, wenn sie im Mittelpunkt stand. Kurz spielte sie mit dem Gedanken
sich eine zweite Beruhigungstablette einzuwerfen, wusste aber nicht, wie sie
das hier vorne am Pult bewerkstelligen sollte, ohne das es aussah, als würde
sie sich irgendwelche Drogen einschmeißen. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie
sich Jen auf den Stuhl am Pult setzte und den Laptop auspackte. Oh man! Ich kann’s immer noch nicht
glauben, dass wir jetzt echt ‘ne Powerpointpräsentation auffahren, wenn wir
eigentlich nur zehn Minuten labern sollen.
»Leo? Leo, weißt du wie
die Scheiße hier funktioniert?«, flüsterte Jen in diesem Moment.
»Nope. Genau aus dem
Grund wollte ich Folien. Aber hier, schau mal, lauter lustige, intelligente
Männer. Da wird ja einer wohl wissen, wie das hier funktioniert.« Leo hatte
nach wie vor die Tür im Blick.
»Du glaubst doch nicht
wirklich, dass einer dieser Sackträger helfen kann. Oder wird.«
»Und was schlägste vor,
Jen?« Leo hob beide Augenbrauen, den Blick immer noch auf die Tür gerichtet.
»Hier muss irgendwo ein
Kabel rumliegen. Probieren wir’s mal damit. Und hör auf, die Tür zu
hypnotisieren. Loverboy kommt nicht mehr und wenn wir weiter rumtrantüten,
kriegen wir richtig, richtig Ärger mit der Vettel da hinten. Die guckt schon
die ganze Zeit so grantig.«
Leo schnaubte
zustimmend. Sie gab es nur ungern zu, aber Jen hatte Recht. Zweifelnd entwirrte
sie das Kabel an der Tafel, reichte es Jen und ließ sich auf einen zweiten
Stuhl nieder. Mit einem betont fröhlichen Lächeln wandte sie sich an ihre
Professorin:
»Entschuldigen Sie
bitte die Verzögerung, aber wir haben hier kleine, technische Schwierigkeiten
und so wie es aussieht, fehlt unser dritter Mann heut. Unerwartet, muss ich
zugeben, aber dennoch zu bewältigen.« Leo schluckte, als sie den ungnädigen
Blick ihrer Professorin bemerkte. Fuck!
Kein gutes Zeichen! Nervös rieb sie sich den Nacken und warf Jen einen
verzweifelten Blick zu. Diese zuckte mit den Achseln.
»Hier tut sich
nichts!«, kamen die Worte gepresst aus Jen heraus.
Yeah, Party!
»Bitte fangen Sie an.
Wir haben schon genug Zeit verschwendet.«
Leo und Jen tauschten
einen Blick. Jetzt wird’s haarig! Leo
räusperte sich. Die Handouts waren
verteilt, die Notizen lagen bereit – was sollte jetzt noch schief gehen?
Abgesehen von dem offensichtlichem.
Also
gut, legen wir los.
»Ich heiße euch
herzlich willkommen zu unserem Vortrag über Iphigenie auf Tauris. Wir, also Jen
und ich, werden euch die Handlung des Dramas, die Figuren und viele, nützliche
Informationen näher bringen.« Leo lachte leicht und schämte sich, als sie
hörte, wie nervös sie klang. Sie versuchte dem Blick ihrer Professorin auszuweichen
und konzentrierte sich auf einen Punkt am Fenster.
***
»An dieser Stelle
brechen wir ab!«
Leo und Jen fuhren
zusammen, als die Stimme ihrer Professorin durch den Raum hallte. Leo schloss
den Mund und schluckte. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Ich hab noch nicht mal die Hälfte von dem gelabert, was ich labern
wollte. Jen hat gar nichts gesagt und der Teil, den Dan vortragen sollte, fehlt
auch noch. FUHUCK!
»Ich habe genug gehört.
Bitte nehmen Sie wieder Ihre Plätze ein.« Ihre Professorin stand auf und ging
nach vorne. Jen und Leo blieben einen Moment unschlüssig stehen. Leo griff ihre
Notizen, stieß Jen an und huschte zur letzten Reihe. Jen schleuderte das Kabel
von sich und folgte ihr.
»Willst du das nicht
aufräumen?«, murmelte Leo.
»Soll sich die alte
Vettel doch den Hals brechen!« Jen verschränkte die Arme.
»Dir ist klar, dass die
uns den Gefallen nicht tun wird.«
»Ja. Leider.«
Die beiden Freundinnen
grinsten sich an.
»Eins sag ich dir aber:
Wenn Loverboy auftaucht, reiss ich ihm den Arsch auf! Ich mach den so fertig,
dass seine Eierstöcke auf Grundeis gehen!« Jen war immer lauter geworden,
mehrere Köpfe hatten sich bereits nach ihr umgedreht. Leo kicherte.
Charly bewegte sich
unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Sie saß für ihren Geschmack zu weit von
Leo und Jen entfernt, zu gern hätte sie jetzt mit ihnen gesprochen, gelästert
oder ihnen einfach nur zugehört, wie sie sich aufregten. Das Referat der beiden
war gründlich in die Hose gegangen, Leo hatte sich um Kopf und Kragen geredet,
Jen war nicht ganz bei der Sache gewesen – oder war einfach nur zu gelangweilt,
um Begeisterung zu heucheln – und Dan war gar nicht erst aufgetaucht. Kein
Wunder, dass der Vortrag unterbrochen, beendet worden war. Charly konnte sich
gut vorstellen, dass die beiden sich jetzt ordentlich aufregten. So wie sie Jen
kannte, regte die sich über Dan auf, während Leo ihrer Professorin aller
Wahrscheinlichkeit nach die Pest, Cholera und sonstige Krankheiten wünschte.
Sie rieb sich die Handflächen an der Hose ab. Nervös, unsicher und mit einem
tiefen Gefühl der Einsamkeit zog sie den Kopf ein und wartete auf das Ende des
Seminars. Sie wollte nur noch weg. Irgendwohin, wo sie sich sicher fühlte. Ob
sie nicht doch das Angebot des katholischen Instituts annehmen sollte und vorübergehend
dort einziehen? Charly gefiel dieser Gedanke immer mehr.
Nick tippte mit breitem
Grinsen eine SMS nach der anderen. Britta hatte bis jetzt noch nicht
geantwortet, aber er war sich sicher, dass es nur eine Frage der Zeit war.
Immerhin hatte sie auch noch nicht abgesagt, als er sie zu dem eigens für sie
veranstaltetem Konzert eingeladen hatte.
Alter,
wo steckst du? Du hast die beiden Mädels ziemlich hängen lassen. Die werden
dich so was von lynchen!
Er fragte sich, wo Dan
steckte. Nina war ihm heut schon über den Weg gelaufen. Ob sie ihn hatte
abblitzen lassen? Oder war er mit einer anderen unterwegs? Nick rieb sich das
Kinn. Einerseits brannte er vor Neugier, was da nun genau zwischen seinem
besten Freund und Nina lief, andererseits war es ihm herzlich egal, da ihn
Britta ganz und gar in Bann hielt. Ob ich
die drei Mädels mal fragen soll, was ich noch machen kann, um Brittas Herz zu
gewinnen? Nick neigte den Kopf zur Seite und stellte sich das Gespräch vor.
Jen würde ihn gnadenlos auslachen. Charly würde ihm mit irgendeinem
klischeebeladenen Vorschlag kommen und Leo würde ihm raten, bloß keine
Beziehung anzustreben, weil so was nur Zeitverschwendung war. Nein, von den dreien ist auch keine Hilfe zu
erwarten. Scheiße, Dan, wo steckst du nur?
***
Dan stand an der
Rezeption des Hotels und fühlte sich von Minute zu Minute unwohler. Er hatte
das Gefühl, als könnte man ihm ansehen, was er an diesem Wochenende getan
hatte. Und vor allem mit wem. Die Hände in den Hosentaschen stand er nun also
an der Rezeption und wartete darauf, die Rechnung für das Zimmer begleichen zu
können. Irgendwie hab ich das ungute
Gefühl, beobachtet zu werden. Dan war sich aber sicher, dass er sich das
nur einbildete. Er hatte sich noch nicht getraut, sein Handy einzuschalten. Leo
und Jen – vor allem Jen – würden ihn ungespitzt in den Boden rammen. Die beiden sind sicher stinksauer auf mich.
Naja, ich kann’s ihnen nicht mal übel nehmen, immerhin hab ich sie im Stich
gelassen. Aber vielleicht ist es ihnen auch scheiß egal und sie freuen sich für
mich. Dan musste unwillkürlich grinsen, als er dran dachte, wie Nick
reagieren würde, wenn er ihm von seinem Wochenende mit Nina berichten würde.
Das vernehmliche
Räuspern des Portiers riss ihn aus seinen Gedanken. Ausdruckslos zückte er sein
Portemonnaie.
Nick, Charly, Leo und
Jen standen vor dem Fakultätsgebäude zusammen. Leo umklammerte ihren Kaffee,
Jen und Nick hatten offensichtlich einen Halt an ihrem Glimmstängel gefunden.
»Ich sag’s euch! Ich
hau dem seine entjungferte Fresse ein! Das gibt richtig Ärger für Loverboy!
Dass der uns einfach so hängen gelassen hat!« Jen klang richtig giftig. Leo
kratzte sich an der Nase, schwieg aber.
»Ich versteh es auch
nicht. Das passt so gar nicht zu ihm. Normalerweise ist er der Inbegriff eines
Strebers, aber mit dem Sündenfall kam dann wohl auch gleich die
Persönlichkeitsanpassung. Jetzt wird er zum Bad Boy.« Nick grinste, in seinen
Augen funkelte Spott und Belustigung zugleich. Als Nina zu ihnen stieß, wurde
sein Grinsen noch breiter. Leo und Jen tauschten einen Blick und wackelten
anzüglich mit ihren Augenbrauen. Nina errötete zutiefst.
»Jetzt lasst doch Dan
und Nina mal in Ruhe! Ich find das voll süß!« Charly war selbst überrascht wie
sicher ihre Stimme klang. Nina war ihr einen dankbaren Blick zu, während die
anderen drei kicherten.
»Hey, gerade du
solltest doch am ehesten verstehen, was hier los ist! Der Sündenfall hat
stattgefunden! Nina wurde zur Eva und verführte Adam in Gestalt Dans. Das
vergossene Jungfernblut – oder in diesem Fall Samen – besiegelte den sündigen
Pakt.«
Alle starrten Jen an,
die ungerührt an ihrer Zigarette zog.
»Was zum Geier ist mit
dir los? Heut Morgen gab’s doch gar keine heiligen Cornflakes?« Leo runzelte
die Stirn.
»Im Notfall kennt sich Charly
als studierte Katholikin sicher mit den Exorzismusritualen aus«, erklärte Nick.
Er musterte Jen genauso neugierig wie Leo.
Charly blies die Backen
auf, doch bevor sie irgendetwas sagen konnte, antwortete Jen:
»Ihr zwei seid doch
auch katholisch! Das ist Blasphemie!«
»Sag mal, Leo, hat die
heut Morgen heimlich an deiner Jägermeisterflasche genuckelt?«, wollte Nick
wissen.
»Nur, wenn es ihr
gelungen ist, davon heimlich was in ihren Kaffee zu kippen«, erwiderte Leo.
»Ich kann euch immer
noch hören! Ich bin nicht bewusstlos oder urplötzlich taub geworden!« Jen
funkelte die beiden verärgert an. Nina schüttelte kichernd den Kopf, während
Charly sich langsam zu entspannen schien. Nick öffnete den Mund, um weitere
Witze über Nina und Dans Beziehung zu machen. Jen und Leo wandten sich mit
gelangweilten Mienen ab.
Ein, zwei Sprüche sind
ja ganz lustig, aber Nick übertreibt immer so maßlos!, schoss es Leo durch den
Kopf. Plötzlich hatte sie das Gefühl beobachtet zu werden und sah sich suchend
um. Mit gerunzelter Stirn erkannte sie Fatima an der Eingangstür. Warum starrt die denn so psychopathisch zu
uns rüber? Leos Blick wanderte zwischen Charly und Fatima hin und her. Sie soll sich mal trauen was gegen Charly zu
unternehmen! Sie wird das Echo schon noch zu spüren bekommen!
Fatima beobachtete
Charly ganz genau. Sie war sich sicher, dass Charly dicht halten würde, dennoch
wollte sie sie vorsichtshalber etwas im Auge behalten. Und wenn sie mich doch verrät, dann wird sie Ninas Schicksal teilen! Ein
Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie an das Messer dachte, dass sie
versteckt hatte. Vielleicht sollte ich
mich mit diesen Leuten anfreunden. Dann kann ich Charly überwachen und dafür
sorgen, dass sie wirklich dicht hält.
Charly rieb sich die
Arme. Auch wenn die Sonne schien, war ihr kalt. Die Frotzeleien, die Nick Nina
an den Kopf warf, waren zu belanglos, um sie aus ihrer Furcht zu reißen. Ihr
Blick wanderte ziellos umher, am liebsten wäre sie schreiend davon gerannt und
hätte sich versteckt. Versteckt vor der Welt, vor Fatima, vor allem, was da
draußen lauern konnte. Ich sollte
wirklich zur Polizei gehen, auch wenn Leo meint, sie sorgt dafür, dass Fatima
ihre gerechte Strafe bekommt.
Plötzlich stockte ihr
Atem. Fatima kam direkt auf sie zu!
Jen stieß Leo unsanft
in die Seite. »Oh mein Gott! Die Vogel-Trulla kommt direkt auf uns zu!«
Leo wandte sich um, das
Gesicht schmerzhaft verzogen. »Ernsthaft, deine Ellenbogen tun verdammt weh!
Und was will die jetzt von uns?«
»Vielleicht will sie
uns vor einem Vogelangriff warnen.« Jen grinste spöttisch. Gespannt
beobachteten die beiden, wie Fatima sich ihnen näherte. Nick witzelte
währenddessen immer noch über die Beziehung von Dan und Nina, ohne auf die
Anwesenden zu achten.
»Hallo. Nina, magst du
mir nicht deine Freunde vorstellen? Immerhin bin ich doch deine Schwester, oder
schämst du dich für mich?«
Leo spuckte den Kaffee,
den sie im Mund hatte, im hohen Bogen aus. Jen ließ ihre Lucky Strike fallen
und riss die Augen auf. Nur Charly schien seltsam desinteressiert an dieser
Neuigkeit.
»Das da … ist deine
Schwester?«, fragte Jen fassungslos und zeigte auf Fatima. Nina nickte zögernd.
»Schämst du dich etwa
für mich? Nina, wir sind doch eine Familie!« Fatima schien ehrlich verletzt zu
sein. Nina verdrehte die Augen.
Bevor Leo etwas sagen
konnte, erklang eine Stimme, die sie genervt aufstöhnen ließ.
»Leo? Leo, kann ich mit
dir sprechen? Por favor?« Eduardo stand etwas abseits, die Hände in den
Hosentaschen vergraben, eine Art Dackelblick aufgesetzt.
»Alter, verpiss dich!«,
fuhr ihn Jen an, bevor Leo reagieren konnte. Eduardo zuckte zusammen, sein
Blick verhärtete sich.
»Von jemandem wie dir
lass ich mir nichts sagen!«, wandte er sich an Jen. Leo hob die Augenbrauen.
»Können wir bitte
abseits dieser Kinder reden? Bitte, Leo!«, flehte er Leo an.
Diese schnaubte nur
verächtlich.
»Du kleine Schwuchtel
glaubst doch wohl nicht wirklich, dass Leo sich auf dein Niveau herab gibt und
mit dir jetzt über irgendwelche Bettgeschichten redet! Langweilen kann sie sich
auch anders. Also zisch ab und nerv wen anders!«
»Spricht sie jetzt für
dich?« Eduardo deutete auf Jen.
»Sieht wohl ganz danach
aus, ne?« Leo warf ihren Becher gezielt in den Mülleimer und lächelte Eduardo
süßlich an. »Und du entschuldigst mich jetzt sicher, nicht wahr? Wie Jen schon
sagte: Langweilen kann ich mich auch wo anders.«
»Seid ihr immer so
unfreundlich?«, wollte Fatima wissen, als sich Jen und Leo abwandten, um zu
gehen. Sie erhielt keine Antwort.
***
Julia saß auf dem Sofa im
Wohnzimmer und hörte ihrem Bruder zu. Seine Pläne nahmen immer seltsamere
Formen an und wurden immer fantastischer. Sie musste Ben allerdings
zugutehalten, dass er als Chemiker genau wusste, was er tat. Das kleine,
flüssige Gemisch, das sie Nick unterjubeln sollte, war ihm auf Anhieb gelungen.
Sie wusste auch, dass er es schon an jemandem getestet hatte, als er am
Wochenende unterwegs gewesen war. Ursprünglich wollte er die Wirkung an
»Sämäntha« testen, aber ihr Bruder ging dieser überdrehten Blondine aus dem
Weg. Anscheinend war sie doch nicht das ideale Mittel zum Zweck, um an Leo
ranzukommen, dachte Julia gehässig.
»Wie kommst du mit Nick
voran? Und bist du dir sicher, dass diese Schlampe in deinem Seminar das Maul
hält?« Bens Stimme klang dumpf, er hatte sich seiner Bilderwand zugewandt.
Julia verdrehte die Augen. Natürlich interessierte ihn nur sein Plan, nur seine
Rache. Verbissen wie ein Pitbull!
»Keine Angst, das
klappt schon alles. Lass mich nur machen. Ich werde dich nicht wieder
enttäuschen. Hör auf immer so ein
Theater zu machen.« Julai verschränkte die Arme. »Reicht es nicht, dass
ich wegen dir kein normales Leben habe? Kein eigenes? Musst du mir sogar noch
den Rest vermiesen?«
»Hab dich nicht so! Du
wolltest doch immer Schauspielerin werden. Warum zickst du dann jetzt so rum?
Eine bessere Übung kannst du doch nicht kriegen!«
Julia schüttelte den
Kopf. Ihr Bruder war borniert wie eh und je – insgeheim hoffte sie, dass er bei
seinem Racheplan ordentlich auf die Nase fallen würde. Ob sie ihn unauffällig
sabotieren konnte? Ob sie Leo einweihen sollte? Aber Julia wusste bereits, wie
Leo auf sie reagieren würde. Sie lehnte sich zurück, blicklos auf ihren Bruder
starrend. Ja, Bens Pläne waren am Anfang recht amüsant gewesen, aber sie nahmen
immer kriminellere Züge an und Julia war sich nicht mehr sicher, ob sie ihm
hierbei noch helfen wollte. Langsam, aber sicher, wurde es ihr zu brenzlig.
Doch wie sollte sie aus dieser Geschichte wieder heraus kommen?
Charly, Jen und Leo
saßen im Garten und genossen die Stille. Vor ihnen stand eine Flasche Wein und
eine Schüssel mit Chips und Leos Hund wuselte um sie herum, in der Hoffnung
entweder Wein oder Chips abzubekommen, doch er wurde von den drei hitzig
diskutierenden Freundinnen ignoriert.
»Du wirst sie schon
früh genug bei der Polizei melden, glaub mir! Erst einmal aber wird sie am
eigenen Leib spüren, was es heißt, gequält zu werden!« Leos Stimme war
hasserfüllt.
»Lass mich doch einfach
zur Polizei gehen und sie anzeigen. Die werden sich schon um Fatima kümmern.«
Charly knetete nervös ihre Hände. Sie schien nicht zu wollen, dass Leo ihre
Rachegelüste auslebte. Jen stellte mit einem lauten Knall ihr Glas auf den
Tisch.
»Verdammt noch mal,
Charly! Diese kleine Terroristenhure verdient es nicht anders! Lass Leo sich
mal austoben, du wirst sehen, danach geht’s dir nicht nur besser, sondern es
hat dieser Schlampe mehr weh getan, als die Polizei es legal tun dürfte.« Jen
schien voll und ganz auf Leo zu vertrauen. Charly kräuselte die Nase.
»Aber wäre es nicht besser,
der Polizei zu überlassen, wie und welche Strafe Fatima verdient?«
»Nein.« Für Leo war das
Thema damit beendet. Sie hatte ihren Entschluss gefasst und mit Ben schon einen
perfiden, gemeinen und auch grausamen Plan ausgearbeitet.
»Du hast doch Jura studiert!
Du solltest doch wissen, dass du dir eine Menge Ärger einhandelst, wenn man
dich erwischt!« Charly bemühte sich offensichlicht darum, ihre Freundin wieder
zur Vernunft zu bringen. Doch Leo lachte nur.
»Wer sagt denn, dass
ich mich erwischen lasse?«
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