Sonntag, 2. Dezember 2012

Schmankerl aus Café Diary 06



Tag 36

Fatima fiel es schwer, sich zu beherrschen. Sie starrte in das lachende, glückliche Gesicht ihrer Stiefschwester, während sie frühstückten, und wollte ihr am liebsten das Buttermesser ins Auge rammen. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete sie Nina und suchte ihren Blick, in der Hoffnung ihr wenigstens ein bisschen Angst einzujagen.
Doch Nina schien Fatima gar nicht wahrzunehmen. Munter plauderte ihre Schwester über ihr Wochenende und schien sich nichts dabei zu denken. Falls die überhaupt denkt!, schoss es Fatima durch den Kopf. Sie umklammerte den Henkel ihrer Tasse und atmete den Geruch ihres Tees ein. Die Fröhlichkeit ihrer Familie, die Enge des Frühstückstischs drohte sie zu ersticken, sie endgültig in den Wahnsinn zu treiben. Mit geschlossenen Augen zählte sie bis zehn, um sich in den Griff zu bekommen und stand auf. Betont ruhig, damit ihre Familie nichts merkte, verließ sie das Esszimmer. Die Fäuste geballt, lehnte sie sich im Flur an eine Wand. Wie gern würde sie ihrer Stiefschwester ins Gesicht schlagen! Mit grimmiger Befriedigung dachte sie an das Messer in ihrer Schreibtischschublade. Sie würde ihre Rache bekommen! Sie würde Nina zeigen und spüren lassen, dass sie sich nicht einfach an ihrem Mann vergreifen konnte!

Leo gähnte, während sie der Kaffeemaschine in der Brecht-Cafeteria beim Arbeiten zusah. Neben ihr stand Jen, die Hände in den Hosentaschen vergraben, das Gesicht mürrisch und schlecht gelaunt.
»Jetzt guck doch net so angepisst! Davon wird’s halt au‘ net besser! Da müss’n wa nu durch. Aber Kopf hoch, nach zehn Minuten sin‘ wa da durch.« Leo verzog das Gesicht, als ihr auffiel, wie sehr sie wieder in den schwäbischen Dialekt verfiel.
»Was’n mit dir los? Seit wann schwätzt du denn?« Jen starrte ihre Freundin fragend an. Ihre Gesichtszüge spiegelten eine amüsante Mischung aus mieser Laune und Verwirrung wider, weswegen Leo zu kichern begann.
»Das ist ein Nebeneffekt von Müdigkeit, wenig Koffein im Blut und seltsamerweise relativ guter Laune.« Leo steckte mit routinierten Bewegungen ihren Studentenausweis in den vorhergesehen Schlitz, stellte einen zweiten Becher unter die Maschine und drückte den Knopf für Milchkaffee. Mit einem ungeduldigen Grunzen drückte sie einen Deckel auf den schwarzen Kaffee für Jen und drückte dieser den Becher in die Hand.
»Du bist wie’n Roboter! Mein persönlicher Kaffee-Roboter!«
Leo hob eine Augenbraue, erwiderte aber nichts darauf.
Jen schüttelte sich, hielt den Becher fest umklammert und sah sich um. »Ich hab absolut keine Lust auf dieses dämliche Referat!«
»Ja, komm. Wir ziehen das easy peasy durch und dann war’s das. Ich mach mir da keinen Stress. Gibt nur graue Haare und Falten und so Scheiß.«
»Ja, und man sieht dir dein Alter ja so schon an. Wie schrecklich wären da dann noch Falten und graue Haare!« Jen lachte, als sie Leos verdrießliche Miene sah.
»Komm du mal in mein Alter!« Leo schnappte sich ihren Kaffeebecher und ging kopfschüttelnd nach draußen, um noch eine Beruhigungszigarette vor dem Referat zu rauchen. Ich hasse es, vor anderen zu sprechen! Ich hasse es, im Mittelpunkt zu stehen! Unauffällig angelte sie eine ihrer Tablettendosen aus der Tasche und schluckte verstohlen ein Beruhigungsmittel.
»Wenn Dan nicht auftaucht, schneid ich ihm die Eier ab!«, erklärte Jen in diesem Moment.
»Warum sollte er denn nicht kommen?«, fragte Leo.
»Na, der wird sich mit Nina das Hirn rausvögeln, was glaubst du denn?«
»Quatsch. Dafür is’er zu sehr Theologie-Student.« Leo zwinkerte Jen zu. »Das wird schon, irgendwie. Und wenn nicht, is‘ auch egal.«

Dan streckte sich. Suchend tastete seine Hand über das Nachtkästchen, um nach dem Wecker zu greifen, doch überraschte fühlte er die Schnur eines Telefons. Verschlafen und reichlich verwirrt setzte er sich auf und rieb sich die Augen. Wo bin ich? Der Platz neben ihm war frei. War Nina etwa gestern Nacht nach Hause gefahren? Gegen das hereinfallende Sonnenlicht blinzelnd warf er einen Blick auf die Uhr. Entsetzen breitete sich in ihm aus. Scheiße! Ich hab total verschlafen! Und ich muss noch auschecken! Hektisch sprang er aus dem Bett und suchte seine Klamotten zusammen. Mit fahrigen Bewegungen packte er seine Sachen und eilte zur Rezeption. Er musste ja noch das Zimmer bezahlen. Im Aufzug fiel es ihm dann plötzlich ein: Heute müsste er eigentlich mit Jen und Leo ein Referat halten. Er schluckte. Es war, als würde er für die begangene Sünde mit Nina nun bestraft werden. Mit einem Stöhnen vergrub er sein Gesicht in den Händen.

***

Fatima beobachtete mit Argusaugen, wie ihre Schwester zu ihren Freunden hinüber ging und mit diesen rauchte. Sie kannte die beiden jungen Frauen, bei denen Nina stand. Leonora und Jennifer. Beide waren mit ihr in Mediävistik und beide rissen immer wieder dumme Witze über sie. Fatima kniff die Augen zusammen. Die beiden sind nach meiner Schwester dran! Ich werde ihnen allen zeigen, was es heißt, mich zu verärgern! Fatima ballte die Hände zu Fäusten. Ihre Fingernägel gruben sich ins Fleisch und sie spürte, wie sie zu bluten begann.

»Na, wen haben wir denn da?« Jen stieß Leo in die Seite und wackelte vielsagend mit den Augenbrauen, als Nina zu ihnen trat. Leo grinste und nahm einen Schluck Kaffee.
»Guten Morgen, ihr zwei. Na, seid ihr bereit für euer Referat?« Nina wirkte für die frühe Uhrzeit ungewöhnlich fröhlich und glücklich. Leo und Jen wechselten einen Blick und grinsten sich an. Nothing more to say, ne?, dachte Leo und schwieg breit grinsend. Nina kniff die Augen zusammen und sah ihre Freundinnen misstrauisch an.
»Jetzt guck nicht so, als hättest du Verstopfung! Wir wissen über dein kleines Techtelmechtel mit Dan Bescheid. Und wir freuen uns für euch. Aber wenn dein Mann hier nicht auftaucht, kastrier ich ihn. Also entweder betest du, dass er dich dieses Wochenende geschwängert hat und freundest dich mit dem Gedanken an, dass er keine Kinder mehr zeugen wird oder du betest, dass er hier noch auftaucht.« Jen trat ihre Zigarette aus. Ninas Kinnlade fiel herunter. Leo brach in hustendes Lachen aus.
»Was denn?« Jen schien verwirrt zu sein, doch sie zwinkerte Leo zu, die vor Lachen fast schon weinte. Nina stöhnte und lief rot an. Tja, wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen, dachte Leo. Sie warf einen Blick auf die zutiefst beschämte Nina und bekam Mitleid mit der Freundin.
»Nicht, dass du jetzt denkst, wir freuen uns nicht für euch zwei. Wir finden das sogar richtig klasse. Aber du musst halt jetzt damit leben, dass wir dich damit aufziehen, dass du den jungfräulichen Priester in Versuchung geführt hast.« Leo verkniff sich mit aller Macht ein breites Grinsen und bemühte sich um eine ernste Miene. Jen brach in wieherndes Gelächter aus, während Nina mit hochrotem Kopf ins Gebäude flüchtete.
»Jetzt wissen wir ja immer noch nicht, ob Loverboy kommt.« Jen trat ihre Zigarette aus.
»Der wird schon auftauchen. Loverboy hat doch auch noch eine ordentliche Portion Streber intus. Der wird sich doch nicht die Möglichkeit entgehen lassen, als Klugscheisser zu glänzen.«
»Dein Wort in Gottes Ohren!«, murmelte Jen. Gemeinsam betraten sie den Brecht-Bau und suchten den Seminarraum auf.

***

Charly saß mit hängenden Schultern auf ihrem Platz und wünschte sich weit weg. Sie fühlte sich unwohl, sie wollte wieder zurück zu Leo. Dort fühlte sie sich sicher, es wusste niemand, dass sie dort war. Hier, in der Uni, fühlte sie sich beobachtet, ihrer Peinigerin ausgeliefert. Nervös rieb sie sich den Nacken. Was, wenn sie Fatima begegnen würde? Ob ich zur Polizei gehen sollte? Leo hatte ihr davon abgeraten. Sie erinnerte sich an den entschlossenen Gesichtsausdruck ihrer Freundin, als diese ihr versichert hatte, sich an Fatima zu rächen. Und wenn Charly ehrlich war, konnte sie Fatima sogar ein bisschen verstehen, auch wenn diese ihre Welt ein stückweit zerstört hatte. Ihr Blick wanderte zu Nick. Wie gern wäre sie von ihm gerettet worden! Aber vielleicht sollte ich ihn mir doch aus dem Kopf schlagen, so wie Jen gemeint hat. Charly verzog unwillkürlich das Gesicht, als sie an die eindringlichen Worte dachte, die ihr Jen mehr oder weniger unvermittelt an den Kopf geworfen hatte. Reine Zeitverschwendung hatte diese ihre Schwärmerei für Nick genannt. Kindisch, unreif und absolut sinnlos – so hatte Jen Charlys Verhalten bezeichnet. War sie denn noch nie verliebt gewesen? Charly schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht über Nick oder Fatima nachdenken. Sie wollte sich einfach wieder sicher fühlen.

Leo fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung durch die Haare. Nervös biss sie auf ihrem Unterlippenpiercing herum und hielt die Tür im Blick. Wo zum Teufel bleibt Loverboy? Ihr Herz schlug schnell, sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Leo fluchte verhalten. Sie hasste es. Sie hasste ihren Körper und die Reaktionen, wenn sie im Mittelpunkt stand. Kurz spielte sie mit dem Gedanken sich eine zweite Beruhigungstablette einzuwerfen, wusste aber nicht, wie sie das hier vorne am Pult bewerkstelligen sollte, ohne das es aussah, als würde sie sich irgendwelche Drogen einschmeißen. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich Jen auf den Stuhl am Pult setzte und den Laptop auspackte. Oh man! Ich kann’s immer noch nicht glauben, dass wir jetzt echt ‘ne Powerpointpräsentation auffahren, wenn wir eigentlich nur zehn Minuten labern sollen.
»Leo? Leo, weißt du wie die Scheiße hier funktioniert?«, flüsterte Jen in diesem Moment.
»Nope. Genau aus dem Grund wollte ich Folien. Aber hier, schau mal, lauter lustige, intelligente Männer. Da wird ja einer wohl wissen, wie das hier funktioniert.« Leo hatte nach wie vor die Tür im Blick.
»Du glaubst doch nicht wirklich, dass einer dieser Sackträger helfen kann. Oder wird.«
»Und was schlägste vor, Jen?« Leo hob beide Augenbrauen, den Blick immer noch auf die Tür gerichtet.
»Hier muss irgendwo ein Kabel rumliegen. Probieren wir’s mal damit. Und hör auf, die Tür zu hypnotisieren. Loverboy kommt nicht mehr und wenn wir weiter rumtrantüten, kriegen wir richtig, richtig Ärger mit der Vettel da hinten. Die guckt schon die ganze Zeit so grantig.«
Leo schnaubte zustimmend. Sie gab es nur ungern zu, aber Jen hatte Recht. Zweifelnd entwirrte sie das Kabel an der Tafel, reichte es Jen und ließ sich auf einen zweiten Stuhl nieder. Mit einem betont fröhlichen Lächeln wandte sie sich an ihre Professorin:
»Entschuldigen Sie bitte die Verzögerung, aber wir haben hier kleine, technische Schwierigkeiten und so wie es aussieht, fehlt unser dritter Mann heut. Unerwartet, muss ich zugeben, aber dennoch zu bewältigen.« Leo schluckte, als sie den ungnädigen Blick ihrer Professorin bemerkte. Fuck! Kein gutes Zeichen! Nervös rieb sie sich den Nacken und warf Jen einen verzweifelten Blick zu. Diese zuckte mit den Achseln.
»Hier tut sich nichts!«, kamen die Worte gepresst aus Jen heraus.
Yeah, Party!
»Bitte fangen Sie an. Wir haben schon genug Zeit verschwendet.«
Leo und Jen tauschten einen Blick. Jetzt wird’s haarig! Leo räusperte sich. Die Handouts waren verteilt, die Notizen lagen bereit – was sollte jetzt noch schief gehen? Abgesehen von dem offensichtlichem.
Also gut, legen wir los.
»Ich heiße euch herzlich willkommen zu unserem Vortrag über Iphigenie auf Tauris. Wir, also Jen und ich, werden euch die Handlung des Dramas, die Figuren und viele, nützliche Informationen näher bringen.« Leo lachte leicht und schämte sich, als sie hörte, wie nervös sie klang. Sie versuchte dem Blick ihrer Professorin auszuweichen und konzentrierte sich auf einen Punkt am Fenster.

***

»An dieser Stelle brechen wir ab!«
Leo und Jen fuhren zusammen, als die Stimme ihrer Professorin durch den Raum hallte. Leo schloss den Mund und schluckte. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Ich hab noch nicht mal die Hälfte von dem gelabert, was ich labern wollte. Jen hat gar nichts gesagt und der Teil, den Dan vortragen sollte, fehlt auch noch. FUHUCK!
»Ich habe genug gehört. Bitte nehmen Sie wieder Ihre Plätze ein.« Ihre Professorin stand auf und ging nach vorne. Jen und Leo blieben einen Moment unschlüssig stehen. Leo griff ihre Notizen, stieß Jen an und huschte zur letzten Reihe. Jen schleuderte das Kabel von sich und folgte ihr.
»Willst du das nicht aufräumen?«, murmelte Leo.
»Soll sich die alte Vettel doch den Hals brechen!« Jen verschränkte die Arme.
»Dir ist klar, dass die uns den Gefallen nicht tun wird.«
»Ja. Leider.«
Die beiden Freundinnen grinsten sich an.
»Eins sag ich dir aber: Wenn Loverboy auftaucht, reiss ich ihm den Arsch auf! Ich mach den so fertig, dass seine Eierstöcke auf Grundeis gehen!« Jen war immer lauter geworden, mehrere Köpfe hatten sich bereits nach ihr umgedreht. Leo kicherte.

Charly bewegte sich unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Sie saß für ihren Geschmack zu weit von Leo und Jen entfernt, zu gern hätte sie jetzt mit ihnen gesprochen, gelästert oder ihnen einfach nur zugehört, wie sie sich aufregten. Das Referat der beiden war gründlich in die Hose gegangen, Leo hatte sich um Kopf und Kragen geredet, Jen war nicht ganz bei der Sache gewesen – oder war einfach nur zu gelangweilt, um Begeisterung zu heucheln – und Dan war gar nicht erst aufgetaucht. Kein Wunder, dass der Vortrag unterbrochen, beendet worden war. Charly konnte sich gut vorstellen, dass die beiden sich jetzt ordentlich aufregten. So wie sie Jen kannte, regte die sich über Dan auf, während Leo ihrer Professorin aller Wahrscheinlichkeit nach die Pest, Cholera und sonstige Krankheiten wünschte. Sie rieb sich die Handflächen an der Hose ab. Nervös, unsicher und mit einem tiefen Gefühl der Einsamkeit zog sie den Kopf ein und wartete auf das Ende des Seminars. Sie wollte nur noch weg. Irgendwohin, wo sie sich sicher fühlte. Ob sie nicht doch das Angebot des katholischen Instituts annehmen sollte und vorübergehend dort einziehen? Charly gefiel dieser Gedanke immer mehr.

Nick tippte mit breitem Grinsen eine SMS nach der anderen. Britta hatte bis jetzt noch nicht geantwortet, aber er war sich sicher, dass es nur eine Frage der Zeit war. Immerhin hatte sie auch noch nicht abgesagt, als er sie zu dem eigens für sie veranstaltetem Konzert eingeladen hatte.
Alter, wo steckst du? Du hast die beiden Mädels ziemlich hängen lassen. Die werden dich so was von lynchen!
Er fragte sich, wo Dan steckte. Nina war ihm heut schon über den Weg gelaufen. Ob sie ihn hatte abblitzen lassen? Oder war er mit einer anderen unterwegs? Nick rieb sich das Kinn. Einerseits brannte er vor Neugier, was da nun genau zwischen seinem besten Freund und Nina lief, andererseits war es ihm herzlich egal, da ihn Britta ganz und gar in Bann hielt. Ob ich die drei Mädels mal fragen soll, was ich noch machen kann, um Brittas Herz zu gewinnen? Nick neigte den Kopf zur Seite und stellte sich das Gespräch vor. Jen würde ihn gnadenlos auslachen. Charly würde ihm mit irgendeinem klischeebeladenen Vorschlag kommen und Leo würde ihm raten, bloß keine Beziehung anzustreben, weil so was nur Zeitverschwendung war. Nein, von den dreien ist auch keine Hilfe zu erwarten. Scheiße, Dan, wo steckst du nur?

***

Dan stand an der Rezeption des Hotels und fühlte sich von Minute zu Minute unwohler. Er hatte das Gefühl, als könnte man ihm ansehen, was er an diesem Wochenende getan hatte. Und vor allem mit wem. Die Hände in den Hosentaschen stand er nun also an der Rezeption und wartete darauf, die Rechnung für das Zimmer begleichen zu können. Irgendwie hab ich das ungute Gefühl, beobachtet zu werden. Dan war sich aber sicher, dass er sich das nur einbildete. Er hatte sich noch nicht getraut, sein Handy einzuschalten. Leo und Jen – vor allem Jen – würden ihn ungespitzt in den Boden rammen. Die beiden sind sicher stinksauer auf mich. Naja, ich kann’s ihnen nicht mal übel nehmen, immerhin hab ich sie im Stich gelassen. Aber vielleicht ist es ihnen auch scheiß egal und sie freuen sich für mich. Dan musste unwillkürlich grinsen, als er dran dachte, wie Nick reagieren würde, wenn er ihm von seinem Wochenende mit Nina  berichten würde.
Das vernehmliche Räuspern des Portiers riss ihn aus seinen Gedanken. Ausdruckslos zückte er sein Portemonnaie.

Nick, Charly, Leo und Jen standen vor dem Fakultätsgebäude zusammen. Leo umklammerte ihren Kaffee, Jen und Nick hatten offensichtlich einen Halt an ihrem Glimmstängel gefunden.
»Ich sag’s euch! Ich hau dem seine entjungferte Fresse ein! Das gibt richtig Ärger für Loverboy! Dass der uns einfach so hängen gelassen hat!« Jen klang richtig giftig. Leo kratzte sich an der Nase, schwieg aber.
»Ich versteh es auch nicht. Das passt so gar nicht zu ihm. Normalerweise ist er der Inbegriff eines Strebers, aber mit dem Sündenfall kam dann wohl auch gleich die Persönlichkeitsanpassung. Jetzt wird er zum Bad Boy.« Nick grinste, in seinen Augen funkelte Spott und Belustigung zugleich. Als Nina zu ihnen stieß, wurde sein Grinsen noch breiter. Leo und Jen tauschten einen Blick und wackelten anzüglich mit ihren Augenbrauen. Nina errötete zutiefst.
»Jetzt lasst doch Dan und Nina mal in Ruhe! Ich find das voll süß!« Charly war selbst überrascht wie sicher ihre Stimme klang. Nina war ihr einen dankbaren Blick zu, während die anderen drei kicherten.
»Hey, gerade du solltest doch am ehesten verstehen, was hier los ist! Der Sündenfall hat stattgefunden! Nina wurde zur Eva und verführte Adam in Gestalt Dans. Das vergossene Jungfernblut – oder in diesem Fall Samen – besiegelte den sündigen Pakt.«
Alle starrten Jen an, die ungerührt an ihrer Zigarette zog.
»Was zum Geier ist mit dir los? Heut Morgen gab’s doch gar keine heiligen Cornflakes?« Leo runzelte die Stirn.
»Im Notfall kennt sich Charly als studierte Katholikin sicher mit den Exorzismusritualen aus«, erklärte Nick. Er musterte Jen genauso neugierig wie Leo.
Charly blies die Backen auf, doch bevor sie irgendetwas sagen konnte, antwortete Jen:
»Ihr zwei seid doch auch katholisch! Das ist Blasphemie!«
»Sag mal, Leo, hat die heut Morgen heimlich an deiner Jägermeisterflasche genuckelt?«, wollte Nick wissen.
»Nur, wenn es ihr gelungen ist, davon heimlich was in ihren Kaffee zu kippen«, erwiderte Leo.
»Ich kann euch immer noch hören! Ich bin nicht bewusstlos oder urplötzlich taub geworden!« Jen funkelte die beiden verärgert an. Nina schüttelte kichernd den Kopf, während Charly sich langsam zu entspannen schien. Nick öffnete den Mund, um weitere Witze über Nina und Dans Beziehung zu machen. Jen und Leo wandten sich mit gelangweilten Mienen ab.
Ein, zwei Sprüche sind ja ganz lustig, aber Nick übertreibt immer so maßlos!, schoss es Leo durch den Kopf. Plötzlich hatte sie das Gefühl beobachtet zu werden und sah sich suchend um. Mit gerunzelter Stirn erkannte sie Fatima an der Eingangstür. Warum starrt die denn so psychopathisch zu uns rüber? Leos Blick wanderte zwischen Charly und Fatima hin und her. Sie soll sich mal trauen was gegen Charly zu unternehmen! Sie wird das Echo schon noch zu spüren bekommen!

Fatima beobachtete Charly ganz genau. Sie war sich sicher, dass Charly dicht halten würde, dennoch wollte sie sie vorsichtshalber etwas im Auge behalten. Und wenn sie mich doch verrät, dann wird sie Ninas Schicksal teilen! Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie an das Messer dachte, dass sie versteckt hatte. Vielleicht sollte ich mich mit diesen Leuten anfreunden. Dann kann ich Charly überwachen und dafür sorgen, dass sie wirklich dicht hält.

Charly rieb sich die Arme. Auch wenn die Sonne schien, war ihr kalt. Die Frotzeleien, die Nick Nina an den Kopf warf, waren zu belanglos, um sie aus ihrer Furcht zu reißen. Ihr Blick wanderte ziellos umher, am liebsten wäre sie schreiend davon gerannt und hätte sich versteckt. Versteckt vor der Welt, vor Fatima, vor allem, was da draußen lauern konnte. Ich sollte wirklich zur Polizei gehen, auch wenn Leo meint, sie sorgt dafür, dass Fatima ihre gerechte Strafe bekommt.
Plötzlich stockte ihr Atem. Fatima kam direkt auf sie zu!

Jen stieß Leo unsanft in die Seite. »Oh mein Gott! Die Vogel-Trulla kommt direkt auf uns zu!«
Leo wandte sich um, das Gesicht schmerzhaft verzogen. »Ernsthaft, deine Ellenbogen tun verdammt weh! Und was will die jetzt von uns?«
»Vielleicht will sie uns vor einem Vogelangriff warnen.« Jen grinste spöttisch. Gespannt beobachteten die beiden, wie Fatima sich ihnen näherte. Nick witzelte währenddessen immer noch über die Beziehung von Dan und Nina, ohne auf die Anwesenden zu achten.
»Hallo. Nina, magst du mir nicht deine Freunde vorstellen? Immerhin bin ich doch deine Schwester, oder schämst du dich für mich?«
Leo spuckte den Kaffee, den sie im Mund hatte, im hohen Bogen aus. Jen ließ ihre Lucky Strike fallen und riss die Augen auf. Nur Charly schien seltsam desinteressiert an dieser Neuigkeit.
»Das da … ist deine Schwester?«, fragte Jen fassungslos und zeigte auf Fatima. Nina nickte zögernd.
»Schämst du dich etwa für mich? Nina, wir sind doch eine Familie!« Fatima schien ehrlich verletzt zu sein. Nina verdrehte die Augen.
Bevor Leo etwas sagen konnte, erklang eine Stimme, die sie genervt aufstöhnen ließ.
»Leo? Leo, kann ich mit dir sprechen? Por favor?« Eduardo stand etwas abseits, die Hände in den Hosentaschen vergraben, eine Art Dackelblick aufgesetzt.
»Alter, verpiss dich!«, fuhr ihn Jen an, bevor Leo reagieren konnte. Eduardo zuckte zusammen, sein Blick verhärtete sich.
»Von jemandem wie dir lass ich mir nichts sagen!«, wandte er sich an Jen. Leo hob die Augenbrauen.
»Können wir bitte abseits dieser Kinder reden? Bitte, Leo!«, flehte er Leo an.
Diese schnaubte nur verächtlich.
»Du kleine Schwuchtel glaubst doch wohl nicht wirklich, dass Leo sich auf dein Niveau herab gibt und mit dir jetzt über irgendwelche Bettgeschichten redet! Langweilen kann sie sich auch anders. Also zisch ab und nerv wen anders!«
»Spricht sie jetzt für dich?« Eduardo deutete auf Jen.
»Sieht wohl ganz danach aus, ne?« Leo warf ihren Becher gezielt in den Mülleimer und lächelte Eduardo süßlich an. »Und du entschuldigst mich jetzt sicher, nicht wahr? Wie Jen schon sagte: Langweilen kann ich mich auch wo anders.«
»Seid ihr immer so unfreundlich?«, wollte Fatima wissen, als sich Jen und Leo abwandten, um zu gehen. Sie erhielt keine Antwort.

***

Julia saß auf dem Sofa im Wohnzimmer und hörte ihrem Bruder zu. Seine Pläne nahmen immer seltsamere Formen an und wurden immer fantastischer. Sie musste Ben allerdings zugutehalten, dass er als Chemiker genau wusste, was er tat. Das kleine, flüssige Gemisch, das sie Nick unterjubeln sollte, war ihm auf Anhieb gelungen. Sie wusste auch, dass er es schon an jemandem getestet hatte, als er am Wochenende unterwegs gewesen war. Ursprünglich wollte er die Wirkung an »Sämäntha« testen, aber ihr Bruder ging dieser überdrehten Blondine aus dem Weg. Anscheinend war sie doch nicht das ideale Mittel zum Zweck, um an Leo ranzukommen, dachte Julia gehässig.
»Wie kommst du mit Nick voran? Und bist du dir sicher, dass diese Schlampe in deinem Seminar das Maul hält?« Bens Stimme klang dumpf, er hatte sich seiner Bilderwand zugewandt. Julia verdrehte die Augen. Natürlich interessierte ihn nur sein Plan, nur seine Rache. Verbissen wie ein Pitbull!
»Keine Angst, das klappt schon alles. Lass mich nur machen. Ich werde dich nicht wieder enttäuschen. Hör auf immer so ein  Theater zu machen.« Julai verschränkte die Arme. »Reicht es nicht, dass ich wegen dir kein normales Leben habe? Kein eigenes? Musst du mir sogar noch den Rest vermiesen?«
»Hab dich nicht so! Du wolltest doch immer Schauspielerin werden. Warum zickst du dann jetzt so rum? Eine bessere Übung kannst du doch nicht kriegen!«
Julia schüttelte den Kopf. Ihr Bruder war borniert wie eh und je – insgeheim hoffte sie, dass er bei seinem Racheplan ordentlich auf die Nase fallen würde. Ob sie ihn unauffällig sabotieren konnte? Ob sie Leo einweihen sollte? Aber Julia wusste bereits, wie Leo auf sie reagieren würde. Sie lehnte sich zurück, blicklos auf ihren Bruder starrend. Ja, Bens Pläne waren am Anfang recht amüsant gewesen, aber sie nahmen immer kriminellere Züge an und Julia war sich nicht mehr sicher, ob sie ihm hierbei noch helfen wollte. Langsam, aber sicher, wurde es ihr zu brenzlig. Doch wie sollte sie aus dieser Geschichte wieder heraus kommen?

Charly, Jen und Leo saßen im Garten und genossen die Stille. Vor ihnen stand eine Flasche Wein und eine Schüssel mit Chips und Leos Hund wuselte um sie herum, in der Hoffnung entweder Wein oder Chips abzubekommen, doch er wurde von den drei hitzig diskutierenden Freundinnen ignoriert.
»Du wirst sie schon früh genug bei der Polizei melden, glaub mir! Erst einmal aber wird sie am eigenen Leib spüren, was es heißt, gequält zu werden!« Leos Stimme war hasserfüllt.
»Lass mich doch einfach zur Polizei gehen und sie anzeigen. Die werden sich schon um Fatima kümmern.« Charly knetete nervös ihre Hände. Sie schien nicht zu wollen, dass Leo ihre Rachegelüste auslebte. Jen stellte mit einem lauten Knall ihr Glas auf den Tisch.
»Verdammt noch mal, Charly! Diese kleine Terroristenhure verdient es nicht anders! Lass Leo sich mal austoben, du wirst sehen, danach geht’s dir nicht nur besser, sondern es hat dieser Schlampe mehr weh getan, als die Polizei es legal tun dürfte.« Jen schien voll und ganz auf Leo zu vertrauen. Charly kräuselte die Nase.
»Aber wäre es nicht besser, der Polizei zu überlassen, wie und welche Strafe Fatima verdient?«
»Nein.« Für Leo war das Thema damit beendet. Sie hatte ihren Entschluss gefasst und mit Ben schon einen perfiden, gemeinen und auch grausamen Plan ausgearbeitet.
»Du hast doch Jura studiert! Du solltest doch wissen, dass du dir eine Menge Ärger einhandelst, wenn man dich erwischt!« Charly bemühte sich offensichlicht darum, ihre Freundin wieder zur Vernunft zu bringen. Doch Leo lachte nur.
»Wer sagt denn, dass ich mich erwischen lasse?«

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