Tag 52
Julia rieb sich nervös
den Nacken. Die ganze Nacht hatte sie an Nicks Seite gesessen und über seinen
Schlaf gewacht. Was er im Traum gemurmelt hatte, beunruhigte sie immer noch. Wie viel weiß Leo? Weiß sie überhaupt etwas?
Vermutet Nick nur, dass sie was mit Fatimas Verschwinden zu tun hat? Was, wenn
Leo Ben auf die Schliche gekommen ist? Aber warum unternimmt sie nichts gegen
ihn? Sie biss sich auf die Lippe, zog den Kopf etwas ein und bemühte sich,
unauffällig zu wirken. Sie wollte nicht angesprochen werden. Sie wollte nicht
gesehen werden. Sie wollte nicht einmal hier sein.
Ich
will doch nur ich selbst sein! Mein eigenes Leben Leben!
»Anna-Maria?« Eine Hand
legte sich auf ihre Schulter. Julia brauchte einen Augenblick, um zu verstehen.
Ach ja. Ich bin ja jetzt gerade »Anna-Maria«. Sie seufzte. Nur mit Glück war
Nick gestern nicht hinter ihr Geheimnis gekommen. Zum ersten Mal hatte sie in
ihrer Wohnung ebenfalls eine Perücke tragen müssen – ein unangenehmes Gefühl.
»Was gibt’s?« Sie
drehte sich um und blickte direkt in die Augen Leos. Klasse!
»Alles okay? Du hast
grad ausgesehen, als würd’s dir nicht gut gehen. Kann ich dir irgendwie
helfen?«
Super!
Ausgerechnet du willst mir helfen? Du bist doch an allem schuld! Wärst du doch
nie meinem Bruder begegnet!
»Ne, alles okay. Alles
gut.« Julia schüttelte Leos Hand ab. Hat
sie mich durchschaut? Weiß sie, wer ich bin?
»Sicher? Kommt mir
nicht so vor.«
»Vielleicht will ich
auch einfach nicht darüber reden?« Julia drehte sich um und betrat das Gebäude.
Sie wusste genau, dass Leo sie beobachtete. Verdammt,
Ben! Warum? Warum musst du nur so auf Rache aus sein?
Leo hob eine
Augenbraue, während sie Anna-Maria folgte. Das Verhalten ihrer Kommilitonin war
ihr mehr als nur merkwürdig erschienen. Sie
erinnert mich an irgendjemanden, aber an wen? Ich hab das Gefühl, das Ganze hier schon einmal
erlebt zu haben. Mit Anna-Maria. Aber damals war es nicht Anna-Maria, sondern
Julia. Bens Schwester. Die hat sich auch immer so auffällig seltsam benommen,
wenn sie etwas zu verbergen hatte oder ihr schlechtes Gewissen sie in den
Wahnsinn trieb. Leo rieb sich das Kinn. Sie erinnerte sich dunkel an Julias
große Leidenschaft, Schauspielerin zu werden. Ein verächtliches Schnauben
entwich ihr. Das ist doch total verrückt!
Das ist völlig abwegig!
Als sie den Seminarraum
betrat, herrschte eine seltsame Ruhe, die sie verwunderte. Wie bitte? Keine Zickereien? Kein Kleinkrieg zwischen den Asiatinnen
und Vicky? Was ist denn hier los? Bin ich im falschen Stockwerk? Im falschen
Zimmer?
Mit gerunzelter Stirn
und fragendem Blick setzte sie sich an ihren Tisch und musterte die Anwesenden
misstrauisch. Anna-Maria wich ihrem Blick aus, die Asiatinnen feixten – Leo kam
sich völlig fehl am Platz vor. Wenn jetzt
die Streberfraktion noch nett zu mir ist, dann bin ich eindeutig in einem
Paralleluniversum. Sie verschränkte die Arme und wartete.
Julia biss sich auf die
Unterlippe. Sie hatte den misstrauischen Blick Leos bemerkt. Sie ahnt etwas! Sie weiß etwas! Was mach ich
jetzt?
Das plötzliche
Eintreten von Monika und Frauke lenkte sie ab. Prüfend sah sie möglichst
unauffällig zu Leo hinüber, die die beiden Frauen äußerst feindselig
betrachtete. Erleichterung breitete sich in ihr aus. Wenn Leo sich auf die beiden konzentriert, vergisst sie mich
vielleicht.
»Wo ist denn unsere
Barbie-Puppe? Unsre kleine Aggro-Barbie?« Monika kicherte gehässig. Leo schloss
die Augen, zählte bis zehn und bemühte sich, nicht auszurasten. Ihr war klar,
dass Monika über Vicky sprach. Sie hoffte allerdings, dass sie so klug war, nicht
in ihrer Gegenwart über Vicky zu lästern. Dann
raste ich aus! Ich kann das einfach nicht ab!
»Wahrscheinlich hat
ihre einzelne Gehirnzelle gemerkt, dass das Studieren nichts für sie ist und
sie hat endlich das Feld geräumt und Platz geschaffen für jemanden, der mehr
Grips hat und das Studium mehr verdient.«
Bei Fraukes Worten
ballte Leo die Hände zu Fäusten und betete, dass ihr Professor gleich
auftauchte. Ich reiß diesen gehässigen
Biestern gleich den Kopf ab!
»Allerdings werde ich
sie etwas vermissen. In ihrer Gegenwart war ja sogar die kleine Ersti hier
klug.« Leo fing Monikas Blick auf. Es war, als würde sich ein Schalter in ihrem
Kopf umlegen. Als sie aufstand, wusste sie, dass sie vollkommen ruhig wirkte.
Mit großen Schritten ging sie zu Monika, lächelte und hob die Hand. Das laute
Klatschen der Ohrfeige hallte durch den Seminarraum.
»Hoffentlich hat das
geholfen, deinen Restverstand wieder an Ort und Stelle zu schütteln. Aber
vorsichtshalber … doppelt hält ja bekanntlich besser.« Leo holte erneut aus und
schlug Monika mit aller Kraft ins Gesicht. Sie konnte Frauke entsetzt keuchen
hören und Anna-Maria kichern. »Entschuldige mich bitte, ja? Ich brauch jetzt
einfach zickenfreie Luft.« Ohne nur ansatzweise ein schlechtes Gewissen zu
haben, verließ sie den Raum.
Scheiß
drauf! Ich geb mir das heut nicht!
***
Ben saß auf einer Bank
vor dem Brechtbau. Seit Tagen war Fatima verschwunden. Er konnte sich denken,
was passiert war. Nicks Gemurmel war zwar zusammenhanglos gewesen, aber er hatte
sich einiges zusammen reimen können. Leo. Leo war ihm also nicht auf den Leim
gegangen, sondern auf die Schliche gekommen. Ich muss herausfinden, was sie weiß. Ich muss herausfinden, was sie
gegen mich in der Hand hat. Ich muss verhindern, dass sie mich an die Polizei
verraten kann! Ich muss sie aufhalten!
»Ben? Was zum Geier
machst du hier?«
Leo blieb wie
angewurzelt stehen. Erst die
Streberfraktion, jetzt das hier. Was will denn dieser Spacko hier? Meint er,
nur weil ich mich auf eine Art Allianz eingelassen hab, heißt das, dass er sich
wieder als mein Schatten aufspielen kann?
»Was machst du hier?«,
wiederholte sie, als er weiterhin schwieg.
»Ich … warte auf meine
Schw… ich warte auf jemanden.«
Schwester?
Wollte er Schwester sagen? Julia ist auch hier?!
»Ja? Auf wen wolltest
du warten? Auf deine SCHWESTER?« Leo bemerkte mit grimmiger Befriedigung, wie
Ben zusammen zuckte. Na, Spasti?
Schlechtes Gewissen? Hab ich dich erwischt? Wenn Julia hier ist, dann haben wir
ein ernstes Problem!
»Du musst mich falsch
verstanden haben. Was sollte denn Julia hier in dieser Pampa machen? Hamburg
ist doch ein viel besseres Karrieresprungbrett! Du wirst noch paranoid, wenn du
nicht aufpasst! Hamburg ist doch ein viel besseres Karrieresprungbrett! Du wirst
noch paranoid, wenn du nicht aufpasst!« Bens Lachen klang so falsch, dass Leo
automatisch grinsen musste. Sie kannte dieses Lachen zu gut, um sich täuschen
zu lassen. Sie trat ganz nah an ihn heran und beugte sich zu ihm.
»Denk bloß nicht, dass
du mich täuschen kannst! Ich kenne dich viel zu gut. Ich weiß, dass dir jedes
Mittel recht ist, um deine kranken Pläne zu verwirklichen und du weißt so gut
wie ich, dass du dafür auch deine Schwester einspannst – egal, ob sie möchte
oder nicht. Aber falls du glaubst, ich lasse mich davon einschüchtern oder bin
beeindruckt und ziehe den Schwanz ein, dann hast du dich getäuscht. ICH werde
mich für Hamburg rächen. Für meine Freunde. Für alles, was du mir und ihnen
angetan hast. Du wirst fallen und ich werde dabei zusehen und es genießen.«
Mit einem breiten,
zufriedenen Grinsen wandte sich Leo ab und ließ Ben einfach stehen. Sie zog ihr
Handy aus der Tasche, schickte Jen eine SMS, dass sie heute nicht zur Vorlesung
kommen würde und streckte sich. Ein
schöner Tag, um diesen Bastard zu vernichten! Leo hüpfte beinahe durch die
Straßen Tübingens, so beschwingt war sie durch ihren Erfolg.
Ben starrte Leo
hinterher. Verdammt! Ich hab‘ sie
unterschätzt! Ich hab sie wirklich unterschätzt! Ich hab‘ wirklich geglaubt,
sie nimmt mir die nette Nummer ab. Ich hab‘ wirklich geglaubt, ich kann sie
erneut blenden. Was mach ich denn jetzt? Hat Julia geplappert? Oder hab‘ ich
mich wirklich so verraten?
Ben ließ den Kopf
hängen. Er verstand die Welt nicht mehr.
Mark lächelte. Na, wenn das kein glücklicher Zufall ist!
Sieht so aus, als hätte ich endlich die Verbündete gefunden, die ich gesucht
habe! Bruderherz, dein letztes Stündlein hat geschlagen!
»Quinn? Ist sie das?
Das Mädel, von dem du mir erzählt hast? Die Ex meines Bruders, die ihn aus
tiefstem Herzen hasst?«
»Genau das ist sie.«
Quinns bestätigende
Worte ließ Marks Lächeln zu einem zutiefst zufriedenen Lächeln werden.
»Sorge dafür, dass sie
sich uns anschließt. Wir brauchen sie. Wir brauchen sie dringend.«
»Aber sie mag mich nicht!«
»Dann sorg dafür, dass
sich das ändert!«, herrschte Mark Quinn an, bevor er sich Patrick zuwandte.
»Und du sorgst dafür, dass die kleine Rosahaarige ebenfalls auf unserer Seite
steht. Irgendetwas sagt mir, dass sie eine wichtige Rolle spielen wird.«
Patrick nickte. »Ich
werde dich nicht enttäuschen.«
***
Jen runzelte die Stirn. Leo schwänzt also schon wieder? Und das so
spontan? Da steckt sicher mehr dahinter. Hoffentlich stellt sie nichts Dummes
an. Obwohl in ihrem Fall etwas Dummes immer im Zusammenhang mit Ben steht –
vielleicht unternimmt sie etwas gegen ihn und kommt deswegen nicht? Scheiße,
warum erzählt sie mir nie alles?! Warum immer nur Stück für Stück? Ihr
Blick fiel auf Nick und Dan, die beide zusammen gesunken auf ihren Plätzen
saßen. Na klasse. Und ich darf mich jetzt
mit diesen beiden Heulsusen rumärgern. Wunderbar.
»Jungs, warum zieht ihr
eigentlich so eine Fresse? Was ist los? Die Vorlesung hat doch noch gar nicht begonnen,
wir sitzen vor dem Gebäude, chillen mit Bier und Burger und ihr seht aus, als
hätte man euch in den Kaffee gepisst! Also, raus mit der Sprache! Wo drückt der
Schuh?«
Keine Reaktion. Jen
seufzte. Idioten!
»Jetzt stellt euch doch
mal nicht so an! Maul auf und raus mit der Sprache! Dafuq ist los? Stress mit
Nina? Und du Nick – machen dir deine Drogenprobleme zu schaffen? Herpes?
Sonstige Geschlechtskrankheiten von irgendwelchen Groupies eingefangen?«
»Alter!?« Nick fuhr
empört auf.
Aha,
immerhin eine Reaktion!
»Nicht?« Jen lächelte
süffisant.
»Nein! Wie kommst du
auf den Bullshit? Drogenprobleme? Geschlechtskrankheiten? Bist du gaga? Kannst
du dir in deinem kranken, kleinen Spatzenhirn vielleicht vorstellen, dass ich
Liebeskummer hab?«
Jen schüttelte
ungläubig lachen den Kopf. Nick und Liebeskummer. Das war definitiv nichts, was
sie erwartet hätte.
»Liebeskummer?«, echote
Dan mit brüchiger, trauriger Stimme.
Oh,
yeah! Hört sich spaßig an – nicht!
»Oje, Jungs. Klingt,
als bräuchtet ihr dringend jemand, der euch zuhört.« Jen setzte sich zu den
beiden auf die Treppenstufen. »Ich hör euch zu – und keine Angst, es bleibt
unter uns.«
Sie seufzte, als die
beiden jungen Männer schwiegen.
Plötzlich bewegte sich
Dan. Jen warf ihm einen aufmerksamen Blick aus dem Augenwinkel zu, hielt den
Atem an und wartete. Ich darf mich jetzt
nicht abrupt bewegen. Das ist wie bei Wildtieren. Wenn man sich zu schnell oder
plötzlich bewegt, dann verschreckt man sie.
»Versprichst du, keine
dummen Sprüche abzulassen? Keine Witze zu machen und die Klappe zu halten? Es
nicht Leo oder Charly oder sonst wem zu erzählen?« Dan sah sie mit einem
eindringlichen Blick an.
»Jaha. Versprochen.« Pedant!
»Nick?«
»Dude, seriously? Als
würd ich dich jemals verraten!«
Ja,
wir wissen’s. Wahre Liebe gibt es nur unter Männern!
»Nina spricht nicht
mehr mit mir. Sie will mich nicht mehr sehen, sie will nicht mehr mit mir
reden, sie will sich nicht mehr mit mir treffen. Ich weiß nicht, was passiert
ist, aber es muss irgendetwas Schreckliches gewesen sein. Irgendetwas, was sie
erschüttert hat. Oder ich habe unbewusst etwas angestellt, aber ich weiß nicht
was. Ich komm einfach nicht drauf und das quält mich mehr, als jemals
irgendetwas davor. Es macht mich wahnsinnig. Ich dreh‘ bald durch!«, brach es aus
Dan heraus. Bestürzt bemerkte Jen, wie Tränen in seine Augen traten. Scheiße, den nimmt das echt mit!
»Dan, ich würd mir da
nicht so den Kopf zerbrechen. Nina hat momentan viel Stress mit ihrer
psychopathischen Stiefschwester. Bei der würd ich auch total am Rad drehen. Das
wird alles wieder, glaub mal.«
»Du hast leicht reden«,
murmelte Dan.
Uff!
Ich glaub, ich muss Nina mal den Kopf waschen. Kann ja nicht sein, dass sie
ihrem Loverboy nichts erzählt und dafür alles an ihm auslässt. Da sollte sie
das eher an Leo und mir auslassen. Oder an Fatima.
»Dan, ich versprech es
dir. Das kommt wieder in Ordnung. Kopf hoch!«
»Dude, bei dir wird das
eher wieder was, als bei mir. Ich hab‘ mich ordentlich in die Scheiße
geritten.«
Jen hob die
Augenbrauen, als sie sich Nick zuwandte. So
deprimiert hab‘ ich Mr Sunshine ja noch nie gesehen!
»Ihr erinnert euch doch
sicher noch an Britta. Britta, das Mädel, für das ich das Konzert gegeben hab.
Ich dachte … nun, ich hab‘ geglaubt, ich bin in sie verliebt. Aber ich hab‘
mich geirrt. Es ist etwas passiert, was mir die Augen geöffnet hat. Und ich
kann mir nicht helfen, ich kann nicht anders. Ich will nur sie.«
»Ich nehm‘ an, du
sprichst von Charlie. Und was passiert ist – lass mich raten … ein One Night
Stand?« Jen bemühte sich, nicht sarkastisch zu klingen.
Nicks Blick sprach
Bände. Es war ihr anscheinend nicht gelungen.
»Tut mir leid, aber es
war verdammt offensichtlich. Zumindest jetzt, nach dem, was du erzählt hast.«
Dan nickte zustimmend.
Vielen
Dank, Loverboy, dass du mir hier zustimmst!
»Echt? Es war so
offensichtlich?«
Jen hätte beinahe
gelacht, so sehr amüsierte sie der geschockte Gesichtsausdruck Nicks, als sie
und Dan nickten.
»Klasse. Dabei hatte
ich gehofft, dass es keinem auffällt.«
»Naja, ich bin mir
sicher, dass Charlie keinerlei Ahnung hat, was du für sie empfindest.
Eigentlich ist sie der festen Überzeugung, dass du von ganzem Herzen Britta
liebst und sie für dich nicht mehr als eine Art Lückenbüßer ist oder gar
unsichtbar.«
»Das ist kompletter
Schwachsinn!«
»Dann hättest du sie
eventuell mal anders behandeln sollen! Kannst du dir vielleicht vorstellen,
dass es sie verletzt hat, dich ständig mit anderen Weibern zu sehen? Die ganzen
zwei Monate hat sie nichts anderes getan, als dir zuzusehen, wie du anderen
Weibern hinterher steigst oder mit ihnen ins Bett steigst oder für manche sogar
ein Konzert veranstaltest! Da ist es doch wohl normal, dass sie denkt, du hast
so gut wie gar kein Interesse an ihr!«
»Jetzt gib mir doch
nicht die Schuld an dem Drama!« Nick war aufgesprungen, starrte Jen wütend an
und schien das eben Gehörte nicht verarbeiten zu wollen.
»Boah, komm mal wieder
runter! Ich hab‘ nur versucht, dir ihre Sichtweise zu erklären. Mehr nicht. Was
hast du jetzt vor? Ich mein, für Brigitte … Birgit … also, für diese andere
Tussi hast du ein Konzert gegeben. Was gedenkst du zu tun, um Charlies Herz zu
erobern?« Jen deutete Nick, sich wieder zu setzen.
»Ich weiß es nicht. Ich
weiß einfach nicht, was ich tun soll, um sie von mir zu überzeugen. Ich weiß
nicht, was ich tun kann, um ihr Herz zu gewinnen. Wenn es dafür noch nicht zu
spät ist. Aber … ich muss gestehen, wenn Britta in meiner Nähe ist und mich
umsorgt, geht es mir besser. Ich fühl‘ mich dann energiegeladener. Als könnte
ich die Welt stemmen, so wie es Atlas tat.«
Alter
Falter, der is‘ ja komplett drüber!
»Ich kann ja mal
vorsichtig nachfragen, wie die Lage ist. Versprechen kann ich aber nicht, dass
sie von jetzt auf gleich auf große Liebe umschält und Kai Pflaume einlädt, für
euch ‘ne Show zu veranstalten. Das dauert dann schon so ein klitzekleines
bisschen. Hältst du das aus?«
Nick schluckte. Jen
beobachtete ihn.
»Ja. Ich pack das.«
»Wunderbar. Dann haben
wir ja alles geklärt. So, ich glaub‘, wir gehen dann besser rein, bevor die
guten Plätze alle weg sind. Ihr zwei hört jetzt auf so ein beschissenes Gesicht
zu ziehen und wir haben alle Spahaß!« Jen klatschte in die Hände und zog die
Freunde mit sich. »Keine Müdigkeit vorschützen, Jungs! Auf, auf!«
***
Leo schnippte den
Stummel ihrer Gauloises weg und lächelte.
»Schön, dich zu sehen.
Hast du endlich alles, was ich wollte?« Sie hob den Kopf, um ihrem Gegenüber in
die Augen schauen zu können.
»At least. Es war
schwieriger, als gedacht. Der Kerl ist ein Mysterium. Aber ich steh‘ ja auf so
was. Zu deinem Glück, Kleines. Aber mit diesen Informationen hast du ihn
komplett in der Hand.« Ihr Gegenüber zündete sich eine Zigarette an, während
Leo den Umschlag, den er ihr gereicht hatte, fest umklammert hielt. »Was hast
du jetzt eigentlich vor? Mit all dem Wissen kannst du ihn jahrelang hinter
Gitter bringen.«
»Oh, das wird nur der
angenehme Nebeneffekt sein. Ich werde ihn erst einmal leiden lassen. Seine
Pläne nach und nach zerstören, seine Intrigen nach und nach aufdecken und wenn
die Zeit gekommen ist und er am Boden liegt, dann werde ich ihn an die Polizei
verraten.«
»Erinner mich dran,
dass ich mich niemals mit dir anlegen werde. Scheiß die Wand an, du redest hier
über den Untergang eines Menschens, als würdest du über’s Wetter reden.«
Leo lächelte. Die
Angst, die sie in seinen Augen lesen konnte, war echt. Aber ich war noch nie jemand, den man unterschätzen sollte. Wie gut,
dass er sich daran wieder erinnert.
»Wie sieht es mit
meiner Belohnung aus?«
»Keine Angst. Wenn
alles so funktioniert hat, wie ich mir das vorstelle, sollte dir das doch
eigentlich Belohnung genug sein. Aber ich weiß, worauf du hinaus willst. Es ist
alles vorbereitet, die Schlüssel zur »Hütte« hast du ja noch, nehm ich an. Es
wird dich dort keiner stören oder vermuten. Du hast dort also deine Ruhe und
kannst tun und lassen, was du willst.«
»Die Firma dankt. Und
falls du wieder so ein kleines Rätsel hast, das gelöst werden will …«
»Melde ich mich bei dir.«
Leo neigte den Kopf zum Abschied und drehte sich auf dem Absatz um. Sie hatte
bekommen, was sie wollte. Nichts würde sie jetzt noch aufhalten können. Nicht,
so lange sie sowohl Ben wie auch ihren Informanten in der Hand hatte.
Jen lächelte die beiden
Freundinnen an, die mit ihr im Garten von Leos Häuschen saßen.
»Schön, dass du kommen
konntest, Nina. Ich find, so ein Mädelsabend war schon lange überfällig.« Jen
goss Wein in die Gläser und reichte Charlie und Nina jeweils eines.
»Wo ist denn Leo?«,
wollte Nina wissen.
Jen bemerkte den
misstrauischen Ausdruck in ihren Augen. Ah,
vermutlich weiß sie, dass ich sie unter einem Vorwand hergelockt habe. Aber ich
lass sie noch ein bisschen zappeln.
»Die kommt später.
Wollte noch irgendwas Superheimliches, Supercreepiges erledigen. Ihr kennt sie
ja. Die alte Geheimniskrämerin. Soll uns aber nicht dran hindern, gemütlich
zusammen zu sitzen und über Männer und co zu lästern.«
»Über Männer lästern?
Was willst du uns damit sagen? Hast du dich jetzt doch für Tim entschieden?«
Charlie beugte sich neugierig nach vorne.
Warum
war mir das klar? Aber gut, dann tun wir mal so als ob, um Antworten zu
bekommen.
»Ja. Nein. Ach, ich
weiß auch nicht.« Jen senkte den Blick, von sich selbst angewidert.
»Wie? Das musste jetzt
schon genauer erläutern.« Nina lehnte sich zurück, schwenkte das Weinglas und
schien froh zu sein, dass nicht sie Mittelpunkt der Unterhaltung war.
»Ach, es ist komisch.
Er ist komisch. Er ist wie so ein kleines Hündchen. Bettelt ständig nach
Aufmerksamkeit und kennt seine Grenzen nicht. Ungefähr so wie Leos Hund, nur
nicht so süß.«
»Und trotzdem hast du
mit ihm geschlafen. Du warst doch mit ihm im Bett, nicht wahr?«
Jen knirschte mit den
Zähnen. Nur mühsam schaffte sie es den Impuls zu unterdrücken, Nina die
Weinflasche nicht an den Kopf zu werfen.
»Machen wir nicht alle
hin und wieder etwas Dummes?«, murmelte Charlie.
Ha!
Perfektes Stichwort!
»Eben. Ich mein, sei
mal ehrlich, Nina. Hast du nicht auch mal was total Doofes angestellt? Oder
erlebt? Oder irgendwas gemacht, wofür du dich schämen musst oder solltest oder
dich zumindest gefühlt hast, als müsstest du es?«
»Nein.«
Wusa!
Reibe die Wut weg! Ganz ruhig!
»Nina, ernsthaft, wem
willst du denn hier weismachen, dass du dir niemals was Peinliches geleistet
hast?« Charlie schnaubte.
Uuuh,
jetzt wird’s interessant. Ich glaub, Dan hat sich bei Charlie auch schon Luft
gemacht. Tja, Nina, das war wohl nichts.
»Was willst du damit
sagen?«
»Dass du nicht so
unschuldig bist, wie du tust! Ist dir eigentlich bewusst, wie sehr du die
Menschen in deinem Umfeld verletzt? Menschen, die nichts dafür können, dass
deine psychopathische Schwester dir das angetan hat?«
Jen lehnte sich zurück.
Ich wusste ja, dass Dan und Charlie gut
befreundet sind. Ich hätte aber nicht gedacht, dass sie so gut miteinander
befreundet sind. Scheint so, als müsste ich gar nicht die Böse spielen und Nina
den Arsch aufreißen. Charlie erledigt das schon für mich.
»Redest du etwa von
Dan?«
»Natürlich rede ich von
Dan! Du behandelst ihn wie Dreck! Seit Tagen sprichst du nicht mit ihm. Seit
Tagen weichst du ihm aus. Seit Tagen lässt du ihn für etwas büßen, was er nicht
getan hat! Wie kannst du so etwas machen? Ich dachte, du liebst ihn? Ich
dachte, du meinst es ernst mit ihm! Stattdessen behandelst du ihn, als wäre er
Fatima. Als wäre er an allem schuld! Schon mal dran gedacht, dass er dir sogar
helfen würde, den ganzen Scheiß zu vergessen und zu verarbeiten. Und was machst
du? Du stößt ihn immer weiter von dir weg! Er ist nicht Fatima! Er hat dir nichts
getan! Er will doch nur für dich da sein!«
»Was mischt du dich da
eigentlich ein? Was willst du eigentlich von mir? Warum greifst du mich jetzt
so an? Gerade du müsstest genau so sauer auf ihn sein, wie ich!«
Jen runzelte die Stirn.
Jetzt wird’s interessant.
»Und warum sollte sie,
wenn ich fragen darf?«, wandte sich Jen an Nina. Ich bin gespannt, was sie jetzt sagt.
»Weil das alles nur
wegen Dan passiert ist!« Nina stellte ihr Glas so heftig auf den Tisch, das es
zerbrach.
Woah!
Wie ist denn die drauf?
»Als ob er was dafür
kann! Er hat sich das sicher nicht ausgesucht, dass deine Stiefschwester sich
in ihn verliebt hat und ihr dabei mehr als nur eine Sicherung durchgebrannt
ist! Findest du nicht auch, dass du reichlich unfair ihm gegenüber bist?«
»Wieso unfair? Er ist
doch wirklich an allem schuld! Es ist alles seine Schuld! Nur seine!« Nina war
aufgesprungen. Ihr Stuhl war nach hinten gekippt, der Wein auf den Glasscherben
schimmerte wie frisch vergossenes Blut.
»Nina, ich glaube
nicht, dass Dan beabsichtigt hatte, dass sich Fatima in ihn verliebt und dann
so durchknallt! Also das solltest sogar du begreifen!«
»Ja, Charlie? Wirklich?
So, wie du begriffen hast, dass Nick nichts, aber auch gar nichts für dich
empfindet? Du rennst ihm hinterher wie eine läufige Hündin!«
Na,
da ist aber wer nicht auf dem neusten Stand!
»Jetzt mach mal
halblang, Nina. Charlie hat Recht. Du behandelst Dan wie Dreck. Und er kann
wirklich nichts dafür. Wenn du so weiter machst, verlierst du ihn – ist es das,
was du willst?« Jen schüttelte den Kopf. »Setz dich wieder. Keiner will dir
hier was unterstellen oder dir irgendwas vorwerfen, wir machen uns halt nur
beide Sorgen um Dan. Immerhin ist er unser Freund. Und falls du dich erinnerst,
Fatima kann dir nichts mehr anhaben.«
Möglichst unauffällig
versuchte sie Leo eine SMS zu schicken:
Komm
her! Die Kacke dampfelt gar sehr! Hier fließt gleich Blut!
Jen musterte Nina, in
deren Augen etwas funkelte, was sie beunruhigte.
»Woher wollt ihr das
wissen? Sie ist verschwunden!«
»Also eigentlich«, Jen
rieb sich nervös den Nacken, »Sitzt deine Stiefschwester bei uns im Keller.«
»St-st-stimmt das?«,
stotterte Nina fassungslos. Charlie und Jen nickten.
»Ja. Die sitzt unten im
Keller. Charlie und ich zeigen sie dir gern, damit du dich vergewissern kannst,
dass sie dir wirklich nichts mehr tun kann.« Jen deutete zum Haus und wollte
gerade aufstehen, als sie sah, wie Nina rückwärts von ihnen wegstolperte,
aschfahl und zitternd.
Oha,
das kam wohl nicht so gut an.
Mit einem leisen
Keuchen drehte sich Nina um und rannte vom Grundstück.
»Meinst du, sie verrät
uns an die Polizei?« Charlie klang seltsam nüchtern. Jen runzelte die Stirn. Was hat denn das schon wieder zu bedeuten?
»Nö, ich glaub nicht.
Aber sie wird ihre Zeit brauchen, um das zu verarbeiten.«
»Hoffen wir es mal.«
So,
und wie soll ich sie jetzt auf Nick ansprechen?