Freitag, 22. März 2013

Der Fall Ödipus




Prolog

Der Geruch von Metall lag in der Luft, als Fus den unterirdischen Raum betrat. Er hatte das Gefühl im Blutgeruch zu ertrinken und hätte sich beinahe übergeben. Er hielt den Atem an, tastete nach dem Lichtschalter und verzog unwillig das Gesicht, als das Licht flackernd anging. Nur schwach wurde der Raum beleuchtet.
»Na, das ist doch fast wie aus einem Horrorfilm.« Die Stimme seines Partners brach misstönend von den Wänden. Fus ließ den Blick durch das Zimmer wandern.
»Wer immer das getan hat, war ziemlich skrupellos.« Er trat vorsichtig an die Leiche des jungen Mannes. »Obwohl ... wenn ich mir den hier so anschau ... er hat sich das wohl selbst angetan. Das Messer hat er ja noch in der Hand. Und wenn mich nicht alles täuscht, sind das hier seine Augäpfel.«
Fus ging in die Knie und betrachtete die Leiche genauer. Getrocknete Blutspuren zogen sich über die fahlen Wangen des jungen Mannes, die zerstörten Augäpfel schienen Fus blicklos anzustarren. Die Fingernägel waren eingerissen, verkrustetes Blut hatte seine Spuren hinterlassen.
»Was ist nur mit dir passiert?«, murmelte er.
Ein leises Knarzen erregte seine Aufmerksamkeit und er hob den Blick. Sanft schaukelte die Leiche einer Frau an einem Seil von der Decke.
»Das ist dann wohl die Mutter.« Fus schluckte.
»Und das hier der Vater. Scheint, als hätten wir die vermisste Familie gefunden.« Sein Partner deutete auf eine zusammengesunkene Gestalt in einer Ecke.
»Was ist hier nur passiert?« Fus schüttelte ratlos den Kopf. Die Mutter erhängt, der Vater offensichtlich zu Tode geprügelt, der Sohn mit herausgeschnittenen Augen – so etwas hatte er noch nie gesehen. »Ob das hier alles geplant war? Und wenn ja, warum? Wer ist so krank, einer Familie das anzutun?«

Montag, 18. März 2013

Auszug aus Café Diary 9



Tag 57

Dans Kopf ruhte auf Leos, die gegen seine Schulter gesunken war. Jen beanspruchte zwei Sitze für sich, indem sie sich der Länge nach ausgestreckt hatte. Die Kopfhörer in den Ohren verhinderten, dass sie von den Gesprächen im Abteil etwas mitbekam. Leo gähnte, als der Zug anhielt, und blinzelte gegen das Licht.
»Bäh! Kann mal jemand das Licht aus und die verfickten Türen zu machen?«, nuschelte sie verschlafen – und eindeutig grantig.
»Guten Morgen, Leo. Guten Morgen, Dan. Und einen wunderschönen guten Morgen, Jen.«
Leo stöhnte unüberhörbar, als sie Olivers Stimme vernahm. Dan rührte sich nicht, Jen hatte offensichtlich nichts mitbekommen.
»Oliver, wie du siehst, schlafen wir alle mehr oder weniger. Wie wär’s? Du setzt dich einfach irgendwohin und lässt uns einfach in Ruhe. Sonst kann es sein, dass ich dir irgendwann die Zunge rausreiße.«
Leo lächelte, als Oliver zurückzuckte und sich schnell auf einen entfernten Platz fallen ließ. Sie gähnte herzhaft, schloss die Augen und döste weiter.

»Also, ich finde es unmöglich so früh aufzustehen und dann noch Zug zu fahren. Wie seht ihr das?«
Leo öffnete langsam die Augen, entzog Dan ihren Kopf als Stütze und wandte sich Oliver zu, der sich über den Gang gebeugt hatte. Alter! Halt doch einfach mal die Schnauze!
»Ich mein, es ist ja noch dunkel. Das geht doch nicht!«
Ein lautes Gähnen war die Antwort auf Olivers Aussage. Jen hatte die Kopfhörer abgenommen, sich aufgesetzt und blinzelte verschlafen.
»Da hast du vollkommen Recht. Es ist zu früh und es ist dunkel. Wenn es dunkel ist, denkt mein Körper immer, er muss schlafen.«
Oh Gott, nein! Geht das Geflirte wieder los? Es möge mich einer erschlagen!
Dan grunzte etwas. Leo neigte den Kopf, sah zu ihm hinüber und verkniff sich ein Lachen. Er hatte die Augen leicht geöffnet, ein spöttisches Funkeln in den Augen. Ihre Blicke begegneten sich. Sie verstanden sich auch ohne Worte, wie Leo amüsiert feststellte. Auch Dan schien den Flirt zwischen Jen und Oliver nicht gerade mit Begeisterung aufzunehmen. Is‘ ja auch ‘ne ziemlich eklige Angelegenheit, wenn man mich fragt.
»So geht’s meinem Körper auch! Wie packt ihr das nur? Ich mein, ich seh‘ euch heute zum ersten Mal im Zug schlafen. Sonst seid ihr immer so topfit.« Oliver rutschte auf den freien Platz neben Jen. Leo verzog angewidert das Gesicht.
»Das Zauberwort heißt Kaffee.« Leo gähnte herzhaft. »Dan, sag mal, hast du den Text über Barthes gelesen? Der Tod des Autors – schwachsinniges Gelaber. Ich mein, ohne Autor gibt es keinen Text. Warum also plädiert Barthes, dass der Autor tot sei?«
Ein Grinsen huschte über Dans Gesicht.
Ja, er durchschaut mich, feixte Leo.
»Also, ich find, man sollte den Text vom Autor immer trennen. Klar, ohne den, der das Ding schreibt, gibt’s keinen Text, aber dennoch sollte man beides trennen. Da muss ich Barthes zustimmen.«
»Ey, sag mal, was zur Hölle ist bei euch denn los? Seit wann redet ihr freiwillig über den NDL-Scheiß?« Jen starrte ihre beiden Freunde verblüfft, fragend an.
»Na, Bildung ist doch wichtig«, wiederholte Leo die Worte Dans. Und es hält diesen Spacko davon ab, mir auf die Nerven zu gehen. Sie sah, wie Oliver seine PSP rauszog und sich komplett auf das Spiel konzentrierte. Vorsichtshalber beschloss sie, dennoch weiter über NDL zu reden. Sicher ist sicher.

***

»Hey, musstet ihr so unfreundlich zu dem armen Oliver sein? Das war voll fies! Einfach so über …«
»Einfach so über die Uni zu reden, meinst du? Oh ja, wir sind ja so gemein«, unterbrach Leo ihre Freundin, drängte sich an einigen Studenten vorbei und rief über die Schulter: »Ich hol uns mal einen Kaffee. Sucht ihr schon mal Plätze und den Scheiß.«
Sie trommelte ungeduldig auf der glatten Theke, während sie dem Kaffee zusah, wie er in den Becher floss. Mach schon! Schneller!
»Hallo, Leonora.«
»Quinn?« Leo fuhr herum, sah direkt in diese smaragdgrünen Augen. Wenn er sich jetzt nur ein klitzekleines bisschen bewegt, berühren sich unsere Nasenspitzen!
Sie schaffte es nicht, ihren Blick von seinen Lippen zu nehmen. Sie konnte es einfach nicht.
»Dein Kaffee wird kalt.« Quinn streckte den Arm aus, ergriff beide Becher und reichte sie mit einem verschmitzten Lächeln an Leo weiter.
»D-d-danke.« Leo, reiß dich zusammen!
»Darf ich fragen, was dich um diese unchristliche Zeit hierher treibt?« Er hielt ihr ritterlich die Tür auf und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.
Erneut ermahnte sie sich, ruhig zu bleiben und sich nichts anmerken zu lassen. »Literatur. Neue, deutsche Literatur. Sachen wie Ödipus und Antigone. Neu und deutsch halt.«
Na bravo, Leo! Jetzt haste mal unglaublich intelligent gewirkt! Respekt! Er ist sicher tierisch beeindruckt!
»Ah, ich versteh‘ schon. Neunzig Minuten pure Langeweile.« Sein Lachen war wie Musik in ihren Ohren.
Oh Gott! Ich bin doch wohl nicht verliebt?!
»Warum bist du denn eigentlich hier? Ich mein, bist du nicht damals nach Tuttlingen gefahren? Was willst du denn hier? Studierst du etwa hier?« Yeah, Leo. Wieder mal eine Glanzleistung deiner kognitiven Fähigkeiten. Sehr gut!
»Ja. Anglistik und Germanistik. Allerdings habe ich mit Germanistik noch nicht angefangen – ich hab‘ von Jura gewechselt, weißt du.«
Will mich hier jemand verarschen? Der Kerl hat Jura studiert?
»Und ich kann dir versichern, dass jedes Literaturseminar, egal in welcher Sprache, tierisch langweilig ist.« Quinn schenkte ihr ein Lächeln, bevor ein Ausdruck von Bedauern über sein Gesicht huschte. »Leider sind wir wohl schon da. So wie es aussieht, wirst du sogar schon erwartet. Nun dann … wir sehen uns. Und lass dich nicht zu sehr langweilen.«
Mit einem, sogar für ihren Geschmack sehr dümmlichen Grinsen, betrat sie den Seminarraum und setzte sich zu ihren Freunden. Sie fing den amüsierten Blick Jen’s auf und streckte ihr die Zunge raus.
»Wag‘ es ja nicht, jetzt ‘nen dummen Spruch rauszuhauen!«
»Och, Leo! Spielverderberin!« Jen grinste von einem Ohr zum anderen.

***

Als sich Nick das vierte Mal innerhalb der ersten dreißig Minuten meldete, sahen sich Dan und Jen verwundert an.
»Was is’n mit dem los?«, murmelte Jen.
»Schlechter Drogentrip. Guter Sex. Vielleicht endlich mal wieder ein gutes Konzert gegeben.« Leo sah nicht einmal auf. Ihr Blick war wieder einmal auf das Display ihres Kindles gerichtet.
Charlie saß schweigend neben ihren Freunden und wich Nicks Blick aus. Jen stieß Dan mit dem Ellenbogen an und deutete auf die Freundin.
»Was hat die denn? Was is’n mit den beiden los? Weißt du was?«
»Nö. Ich hab‘ keine Ahnung, was da los ist. Ich kann nicht in die Zukunft sehen, noch in den Kopf anderer.«
»Und was hast du für ein Problem? Was bist du denn so zickig?«, wollte Jen von Dan wissen. Sie sah, wie sein Blick zu Nina huschte, die auf einem Platz weit weg von ihnen saß.
»Ouh, ihr habt das also immer noch nicht geklärt, oder? Scheiße, Alter. Das wird schon! Lass den Kopf nicht hängen!«
»Ne, das wird eben nicht mehr wieder. Ich weiß, was ich zu tun hab … aber es fällt mir so schwer.«
Redet der grad wirklich mit MIR über seine Beziehungsprobleme? Krasser Scheiß!
»Und was hast du vor?« Jen’s Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
»Ich werde sie gehen lassen. Ich kann nicht an einer Beziehung festhalten, in der meine Partnerin unglücklich ist. Es ist wahrscheinlich sowieso besser so. Meine Mutter sagt immer, keine Frau wird mich jemals so lieben wie sie mich.«
Äh, was? Jen spürte, wie ihr der Mund offen stand und bemühte sich um Fassung. Heilige Scheiße!

Nick warf Charlie immer wieder einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Er hatte sich gut auf das heutige Seminar vorbeireitet. Er wollte sie beeindrucken. Er wollte ihr gefallen. Nick wusste, dass er in Charlies Augen nicht unbedingt als die hellste Kerze auf dem Kuchen galt – dennoch musste er etwas an sich haben, was ihr gefiel. Was auch den meisten Frauen gefiel. Ein verächtliches Schnauben entwich ihm. Er brauchte sich nichts vormachen, er wusste, dass er gut aussah und dass er als Leadsänger jede Frau haben konnte. Aber er wollte, dass jemand hinter diese Fassade sah und erkannte, wer er wirklich war. Er hoffte, dass Charlie das in ihm sehen würde. Das Gute. Das, was hinter seiner Fassade des gutaussehenden Musikers lag.
Aus diesem Grund wollte er ihr heute beweisen, dass er durchaus klug war.
Erneut hob er die Hand, um sich zu melden und die Frage der Professorin zu beantworten.

***

»Nina?« Dans Herz schlug wild. Er hatte das Gefühl, es müsse ihm jeden Moment aus der Brust springen. Bitte, lass sie mich hören! Lass sie stehen bleiben! Damit ich es hinter mich bringen kann!
»Was?« In diesem Wort steckte so viel Gereiztheit, dass Dan unwillkürlich zurückzuckte. »Was willst du, Dan?«
Er schluckte. Sammelte sich. Ordnete seine Gedanken. »Ich gebe dich frei«, quetschte er letzten Endes heraus. Er vertraute seiner Stimme nicht, weswegen er froh war, dass die wenigen Worte heraus waren, bevor seine Stimme brach und Nina merken konnte, wie sehr er litt.
»Was?«
Er zuckte zusammen, als er die merklich schrillere Tonlage hörte.
»Ich gebe dich frei. Ich beende die Beziehung. Damit du wieder zur Ruhe kommst.« Dan ballte die Hände zu Fäusten, um zu verhindern, dass sie zitterten. Sein Blick wanderte über Nina, er wollte sich ihren Anblick tief ins Gedächtnis brennen, bevor er an ihr vorbei ging und nicht zurück sah. Sein Herz blutete, aber er wusste, nur so konnte er Nina den nötigen Freiraum geben, um das Erlebte zu verarbeiten.

Leo saß auf der Heizung vor dem Seminarraum und wartete auf Dan. Sie hatte das Gespräch zwischen ihm und Jen belauscht und hatte sich fast gedacht, welchen Schritt er gehen würde. Als sie ihn mit hängenden Schultern aus dem Raum trat, sprang sie auf und ging vorsichtig zu ihm hinüber.
»Dan?« Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Alles okay soweit?«
Dan nickte. Doch sie konnte sehen, dass er litt. Sein Blick war leer, seltsam gebrochen.
»Vielleicht ist es besser so. Vielleicht kommt sie wieder auf dich zu. Aber wenn nicht, dann wirst du jemanden finden, der dir nicht unbedingt die Schuld an den psychopathischen Verwandten zu geben.« Leo stieß ihn leicht an. »Das hast du nicht verdient, das brauchst du dir nicht geben.«
»Aber ich liebe sie!« Dans Stimme klang gepresst. Leo presste die Lippen zusammen. Am liebsten hätte sie Nina eine reingehauen, aber das würd keinem helfen.
»Dass du sie liebst, hilft dir auch nicht weiter. Außer du stehst drauf, wenn dir immer und immer wieder das Herz gebrochen wird.«
Sie konnte den Kampf in seinem Innersten nahezu spüren.
»Digger, nimm dir heute frei. Geh nach Hause. Geh in den Park. Geh in den Pub. Wenn du magst, komm ich mit. Wir trinken. Wir lästern. Wir ärgern irgendwelche Naturwissenschaftler. Hauptsache du hast Ablenkung.«
Dan wandte den Kopf, ihre Blicke begegneten sich.
»Ne, lass mal. Ich … ich kann das nicht.«
»Verstehe.« Leo zog sich unauffällig zurück. »Aber wenn du wen zum Reden brauchst, meld dich, ja?« Sie drückte seinen Arm, bevor sie zu Jen hinaus trat, um eine zu rauchen.

***

Nina zitterte. War das gerade eben wirklich geschehen? Hatte Dan sie wirklich verlassen? Die Zigarettenschachtel fiel ihr aus der Hand, als sie versuchte, sich eine Kippe anzuzünden. Er hat mich also wirklich verlassen. Er hat genau das getan, was Charlie und Jen ihr prophezeit hatten. Hin und hergerissen zwischen Erleichterung und dem Gefühl, dass ihr eben das Herz herausgerissen worden war, stand sie da und wusste einfach nicht, was sie als nächstes tun sollte. Er hat mich wirklich verlassen. Er hat aufgehört mich zu lieben.
Tränen quollen unter schweren Lidern hervor. Nina wischte sich schniefend über die Augen und machte sich auf den Heimweg. Sie wollte jetzt nur noch allein sein. Mit ihren Gedanken. Mit ihren Sorgen. Mit sich selbst.

Mark rieb sich das Kinn. Wenn er richtig schlussfolgerte, dann war Nina die nächste Kandidatin, die er auf seine Seite ziehen konnte. Charlie war ein leichtes Ziel aufgrund der unerwiderten Liebe zu diesem Sänger. Dieses Mädchen hier war das ideale nächste Ziel, um näher an Leo heranzukommen. Wenn ihre Freundinnen auf seiner Seite stehen – wie könnte sie sich dann noch quer stellen?
Nur wen setz ich auf sie an? Patrick ist an Charlie dran und Quinn versucht es bei Leonora … aber vielleicht sollte er sich lieber um diese junge Dame kümmern. Dann wäre er auch nicht länger ein Konkurrent um sie. Er wäre aus dem Verkehr gezogen.