Sonntag, 30. Dezember 2012

Café Diary 07



Tag 43

Jen zog einen Stapel loser Blätter aus der Tasche.
»Das ist jetzt aber nicht deine Hausarbeit, oder?« Dan rümpfte die Nase, als er einen Blick drauf warf. Leo warf ihm einen Radiergummi an den Kopf, während sich der Seimnarraum langsam füllte.
»Lass sie in Ruhe! Sie hat ein wirklich hartes Wochenende hinter sich.« Auf Leos Gesicht war ein breites Grinsen erschienen.
»Ach ja? Hat sie etwa so wild gefeiert am Samstag, dass sie die Auswirkungen jetzt noch spürt?«, wollte Dan wissen. Leo grinste, hüstelte und warf Jen einen amüsierten Blick zu.
»Halt die Klappe! Halt die Klappe, Leo!« Jen warf ihrer Freundin einen wütenden Blick zu, die albern zu kichern begann.
»Hab ich was verpasst?« Dan sah verwundert aus. Leos Kichern wandelte sich zu einem gackernden Lachen.
»Leo! Hör damit auf!« Jen stieß Leo an, die nur noch lauter und heftiger lachte.
»Wollt ihr mir nicht endlich mal verraten, was los ist?«, fragte Dan leise, um die Aufmerksamkit der eben eingetretenen Professorin nicht auf sich zu lenken.
»Nope«, antworteten beide Freundinnen unisono.

Charly hatte ihren Freunden schweigend, aber amüsiert zugehört. Sie verstand Dans Neugier, aber sie wusste auch, dass Leo niemals etwas verraten würde. Ein leises Kichern entfuhr ihr, als sie an gestern Abend dachte. Leo hatte Pizza gemacht, auf Jen gewartet und ihr nur kleine Brocken an Neuigkeiten hingeworfen. Klar, Leo hatte ihr von ihrem One Night Stand mit Marius berichtet und in allen Einzelheiten geschildert, was ihr an ihm gefiel und sehr detailiert, was nicht. Charly spürte, wie ihre Wangen warm wurden, als sie an die sehr ausfürlichen Beschreibungen dachte, die Leo von Marius zum Besten gegeben hatte. Allerdings hatte sie sich bedeckt gehalten, als es um Jen ging. Charly löcherte ihre Freundin, doch Leo schwieg – abgesehen von kryptischen Andeutungen. Erst als Jen mit gesenktem Haupt ins Haus geschliechen kam, klärte sich alles auf. Leo war von einem heftigen Lachanfall geschüttelt worden, während Jen sich immer unwohler fühlte. Charly hatte nicht verstanden, warum, bis Jen schlussendlich mit allem herausplatze. Tim. Sie konnte es immer noch nicht fassen.

»Sie sehen hier auf dieser Folie Ihre aktuellen Seminararbeitsthemen. Sie haben hierfür zwei Wochen Zeit und ich möchte Sie bitten, die Bücher der Bibliothek nicht auszuleihen, sondern das Benötigte zu kopieren oder vor Ort zu arbeiten. Die Anzahl der Bücher ist begrenzt und es wäre nicht sonderlich fair gegenüber Ihren Kommilitonen.«
Bei den Worten ihrer Professorin gähnte Jen verhalten. Seminararbeiten, Hausarbeiten, Aufsätze – das war nicht ihre Welt. Noch dazu waren die drei gestellten Themen an Langeweile nicht zu übertreffen. Erziehung des Menschen, Tugend und Laster, Symbolik des zerbrochenen Kruges – Schwachsinn. Sie warf ihren Freunden prüfende Blicke zu. Leo schien sich schon für ein Thema entschieden zu haben, denn sie kritzelte in ihrer unleserlichen Schrift wild auf dem Papier herum. Jen schnaubte. Sowohl Dan wie Charly hatten offensichtlich schon ihre Wahl getroffen. Nur ich mal wieder nicht. Wenn es aber um so was Weltbewegendes wie ein One Night Stand geht, da is‘ es dann kein Problem. Danke, liebes Hirn, dass du mal wieder so zuverlässig arbeitest!
»Was’n mit dir schon wieder los? Nachwehen vom Wochenende?«  Leo hatte eine Augenbraue gehoben, die Lippen zu einem schiefen Grinsen verzogen, doch Jen konnte deutlich die Sorge in ihren Augen erkennen.
Glaubt die etwa ich bin schwanger? Selbst wenn man in Bio nie aufgepasst hat, sollte sie wissen, dass das SO schnell noch nicht festzustellen ist!
»Jetzt guck doch nicht gleich so, als ob ich dich gefragt hätte, ob er dich geschwängert hätt‘! Himmel, ich mach mir nur Sorgen, dass du dich mit Selbstvorwürfen zu Grunde peinigst!«
»Tu ich nicht, keine Angst.« Jen schaffte es, Leos Blick standzuhalten. Einen Teufel werd ich tun und zugeben, dass ich am liebsten in Grund und Boden versinken würd!
»Hast du dich schon mit einem der Themen angefreundet?«, wollte Leo wissen.
»Die sind alle zum Kotzen! Aber angesichts unseres Wochenendes …« Jen brach ab, bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hatte.
»…wäre das Tugend und Laster- Ding angebracht.«, beendete Leo den Satz. Jen verzog das Gesicht. Dieses verdammte Wochenende würde sie noch ewig verfolgen.

***

»Ach du heilige Scheiße! Was für ein beschissenes Referat! Haben die das echt nich‘ gerafft, dass die den Titel die ganze Zeit falsch ausgesprochen haben?« Jen konnte es immer noch nicht fassen.
»Scheint wohl der Fall gewesen zu sein.« Leo streckte sich und wühlte in ihrer Tasche nach Zigaretten.
»Wann schaffst du da drin eigentlich mal Ordnung? Das ist nicht auszuhalten!« Jen deutete mit deutlicher Missbilligung auf Leos Tasche.
Ein Grunzen war die Antwort.
»Was wollten die uns damit eigentlich sagen? Kabel und Liebe. Waren die echt zu doof, um zu bemerken, dass das Ding »Kabale und Liebe« heißt? Meine Fresse, oder haben die versucht für die Telekom Werbung zu machen?«
»Regst du dich da jetzt echt drüber auf, Jen? Dir muss echt langweilig sein. Leo scheint gut auf dich abzufärben.« Dan wich in letzter Sekunde dem Kaffeebecher aus, den Leo nach ihm geworfen hatte.
»Alter, das nächste Mal is‘ es das Nibelungenlied!« Leo warf ihm einen warnenden Blick zu.
»Leo? Kann ich kurz mit dir reden?« Eduardo sah sie bittend an, während sich alle zu ihm umdrehten. Neben ihm stand mit hängenden Schultern Tim. Leo und Charly wechselten einen Blick und brachen in gackerndes Gelächter aus.

»Jen, bitte. Ich möchte mit dir über letztes Wochenende sprechen.« Tim klang gequält, bedrückt. Jen knirschte mit den Zähnen, als sie sah, wie ihre Freunde Mitleid empfanden. Außer Dan. Der starrte sie an, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen. Sie konnte sehen, wie er nachdachte, die Zusammenhänge zu erschließen versuchte. Komm schon, so schwer ist das nicht! Sie schnaubte verächtlich, als Dans Blick immer ungläubiger wurde.
»Es gibt nichts zu bereden, Tim. Lass mich einfach in Ruhe.« Jen verschränkte die Arme, während ihre beiden Freundinnen immer noch kicherten.
»Bitte!« Tim trat auf sie zu, berührte sie am Arm und sah sie flehend an. Sie konnte förmlich spüren, wie ihre Freunde dahinschmolzen. Wenn Charly oder Dan anfangen wie kleine Teenagerinnen zu seufzen und dahin zu schmachten, raste ich aus und ertränk sie in ihrem eigenen Sabber!
»Gib dir ‘nen Ruck und hör den armen Burschen wenigstens an«, flüsterte Leo. Jen warf ihrer Freundin einen vielsagenden Blick zu.
»Komm schon! Der sieht echt voll fertig aus!«
»Ich rede mit Tim, wenn du mit Mr Loverlover quatscht.« Jen deutete auf Eduardo. Leo grunzte irgendetwas Unverständliches. Ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus, während Jen Leos Gesichtsausdruck betrachtete.
»Also gut. Deal!« Leo nickte, drehte sich auf dem Absatz um und ging auf Eduardo zu.
Fuck! Meint die das jetzt echt ernst?

Leo atmete tief durch. Komm schon, das schaffst du. Hör dir einfach an, was dieser Lutscher zu sagen hat und dann schließ mit dem Thema ab. Konezntrier dich lieber darauf, keine One Night Stands mit irgendwelchen Kerlen einzugehen, egal wie süß oder heiß oder wie betrunken du bist! Leo musste über sich selbst lachen. Sie führte wieder einmal Selbstgespräche. Ihr Blick wanderte über Eduardos Gesicht, der aussah, als wäre heute Weihnachten und Ostern gleichzeitig. Was ein Lutscher!
»Dann sprich! Was immer du zu sagen hast, hau es raus. Und zwar schnell.« Sie verschränkte die Arme. Wenn sie die Sache mit Tim und Jen – oder zwischen Tim und Jen – nicht so süß gefunden hätte, wäre sie nie bereit gewesen mit diesem spanischen Vollpfosten zu sprechen. Nicht nach dieser Geschichte mit Beatrix.
»Ich … also … ich wollte mich für die Sache mit Bea entschuldigen. Es war dumm. Es war blöd. Und ich bereue es zutiefst, dass musst du mir glauben!« Eduardo griff nach ihren Armen, um sie auseinander zu ziehen und sah sie flehend an.
»Du willst mir also erzählen, dass es dir leid tut und so Scherze? Warst du betrunken? Warst du high? Warst du anderweitig nicht zurechungsfähig und hast nicht bewusst entschieden mit ihr in die Kiste zu hüpfen?«
»Ich … nein, ich war nicht betrunken. Ich war nicht auf Drogen. Ich war bei Bewusstsein. Aber du musst mir glauben, ich wollte das Alles nicht. Ich will Beatrix nicht. Ich will keine andere. Ich will dich!«
Leo schnaubte verächtlich. Abschaum!
»Leonora, bitte! Lass das mit uns nicht so enden!« Eduardos Stimme war unnatürlich hoch und der flehende Ton verursachte Leo Übelkeit.
»Ich weiß nicht, welcher Vogel dir ins Hirn geschissen hat, aber es gibt kein uns. Es gab nie eins und es wird nie eines geben. Und jetzt nimm den Finger aus dem Arsch und verpiss dich!« Unbeabsichtigt war Leo lauter geworden und unterhielt den gesamten Raucherbereich. Als sie sah, wie Eduardo den Kopf einzog, hatte Leo das Gefühl vor Verachtung schreien zu müssen. So ein Weichei! Wie konnte ich nur so blind sein?
»Leonora, bitte! Gib uns noch eine Chance!« Eduardo nahm ihre Hände zwischen seine und hauchte ein Kuss auf ihre Fingerspitzen. Leo entzog sich ihm und ließ ihn mit einem angewiderten Blick stehen.

Jen beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Leo Eduardo abservierte. Sie blendete Tim einfach aus, seine Worte prallten an ihr ab. Sie wollte nicht hören, was er ihr zu erzählen hatte. Was er ihr sagen wollte. Es ist doch schon peinlich genug, dass ich mit ihm im Bett gelandet bin. Warum kann er dann nicht einfach sagen »Okay; es war nur eine Nacht und wir waren betrunken. Nicht mehr nicht weniger.«? Aber nein, er muss hier ja einen auf tragischer Liebesromanheld machen. Spacko.
»Jennifer, ich liebe dich! Ist dir das denn wirklich so egal? Bin ich dir denn wirklich so egal? Die Nacht mit dir war die schönste meines Lebens! Gib uns eine Chance! Ich weiß, dass ich dir nicht so egal sein kann, wie du immer behauptest und tust. Jennifer, bitte!«
Es hätte nicht viel gefehlt, da war sich Jen sicher, und er wäre vor ihr auf die Knie gefallen, um sie anzubetteln. Gegen ihren Willen fühlte sie sich geschmeichelt. Er war auf seine Art und Weise süß. Trottelig süß, aber süß. Jen verschränkte dennoch die Arme, schob trotzig ihr Kinn vor und sah Tim herablassend an. Sie wollte nichts für ihn empfinden. Nicht für Tim.
»Jennifer, bitte! Bitte sag doch etwas!«
Die Unsicherheit in seiner Stimme rührte etwas in ihr. So ungern sie es zugab, sie fühlte sich zu ihm hingezogen. Mit zusammengebissenen Zähnen konzentrierte sie sich auf Eduardo, der mit einem seltsamen Blick Leo hinterher sah. Was geht in seinem Kopf vor? Der Blick kann nichts Gutes bedeuten!
»Jennifer, bitte! Sieh mich an! Bitte, sieh mich an!«
Widerwilig richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Tim. Sein leidender Gesichtsausdruck, die Mischung aus Schmerz und Liebe in seinen Augen weckte ihr schlechtes Gewissen. Sie sah eindeutig, wie er litt. Ich kann ihm aber nicht das sagen, was er hören will! Es geht einfach nicht! Sie atmete tief durch, bereitete sich darauf vor, Tim das Herz zu brechen, als Eduardos Stimme sie aus dem Konzept brachte.
»Leo! LEO! VERDAMMT, LASS MICH HIER NICHT EINFACH SO STEHEN!«
Sie verdrehte die Augen, ein böses Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Stumm dankte sie Gott für diese Ablenkung – so hatte sie die perfekte Ausrede, um Tim links liegen zu lassen – und wandte sich an Eduardo.
»Du bist schon süß. Irgendwie. Aber nicht trottelig süß oder Hundebaby-süß, sondern eklig süß. Stalkerlike. Ich mein, was erhoffst du dir von dieser »Endstation Sehnsucht«-Nummer für Arme? Glaubst du, so beeindruckst du Leo? Schau sie dir an! Schau dich an! Du bist ein Lutscher. Ein kleiner, eierloser Lutscher!« Jen genoß Eduardos erschrockenen Gesichtsausdruck. Mit hämischer Freude sah sie, wie sich Verlegenheit und Wut in seinen Gesichtszügen spiegelte.
»Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden? Hast du nichts Bessere zu tun? Kleine Kinder verschrecken?«
»Oh, süß! Der kleine Lutscher macht auf dicke Hose! Hast du deshalb mit dieser komischen Schlampe gepimpert? Um dich nicht mehr wie ein kleiner Lutscher zu fühlen? Ich mein, es ist jetzt nicht so, dass ich’s nicht verstehen würde. Manchmal braucht man so ein kleines Abenteuer, um sein Ego aufzubauen. Aber dann musst du auch mit den Konsequenzen leben – wie jeder normale Mensch nach einem One Night Stand. Die einzige Ausrede, die man gelten lassen könnte, wären Drogen, Alkohol oder bewusstseinsverändernde, außerkörperliche Erfahrungen. Alles andere zählt nicht! Und ich nehme nicht an, dass eins davon auf dich zutrifft.« Jen hob eine Augenbraue. Beinahe hätte sie laut gelacht, als sie Eduardos Reaktion auf ihre Worte beobachtete. Sein Gesicht wechselte schneller die Farbe, als sie sich vorstellen konnte. Beiläufig bemerkte sie, wie sich Nina zu Dan gesellte und die gesamte Raucherecke sich um sie versammelt hatte. Nina sieht irgendwie ziemlich fertig aus, bemerkte Jen. Hin und hergerissen zwischen Neugier und Schadenfreude biss sie sich auf die Lippe. Soll ich mich jetzt weiter um Señor Chupa Chup kümmern ? Mich interessiert’s halt schon brennend, was mit Nina los ist – aber diesen Spacko zu ärgern macht einfach zu viel Spaß. Scheiße!
»Warum mischt du dich überhaupt ein? Was gibt dir das Recht, so mit mir zu sprechen? Das ist eine Sache zwischen mir und Leo. Nicht zwischen dir und mir. Dich geht das gar nichts an! Kümmer dich lieber um deinen eigenen Scheiß. Um deinen eigenen One Night Stand.« Eduardo klang wütend. Jen lächelte. Nina würde warten müssen. Das hier war viel wichtiger – und viel spaßiger.
»Weißt du, eigentlich hast du recht. Es geht mir wirklich nichts an. Aber ich find es einfach lustig, wie sehr du dich aufregst. Ich mein, du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich aufhör, so lang du dich so wunderbar aufregst? Ich bitte dich! Dafür ist es viel zu lustig.« Jen grinste, als sie sah, wie Leo am Türrahmen lehnte und die Szene amüsiert beobachtete. Scheint so, als hätte ich ihre Zustimmung.
»Leo würde es niemals gutheißen, wie du mich behandelst! Sie liebt mich!«
Jen kaschierte ihren Lachanfall mit einem Husten, während Leo schnaubte.
»Gut, dass du weißt, was ich fühle. Interessant. Also, so weit ich weiß, nennt sich das Gefühl, was für dich empfinde, sicher nicht Liebe. Verachtung – ja. Mitleid – ja. Vielleicht ein bisschen Hass, aber Liebe? Liebe garantiert nicht.« Leo nahm einen Schluck Kaffee, den Blick unverwandt auf Eduardo gerichtet. Jen konnte sich nicht länger zusammenreissen und brach in schallendes Gelächter aus.
»Bäm! In your face, Lutscher!« Sie ging zu Leo, die ihr einen Becher reichte und ohne Eduardo eines weiteren Blickes zu würdigen, verließen sie das Gelände.

»Was war das denn?« Nina sah Dan fragend an.
»Das war die einzigartige Montagmorgen-Show powered by Leo und Jen.«, erwiderte Charly mit einem breiten Grinsen. Nina runzelte die Stirn. Sie verstand einfach nicht, warum Leo und Jen immer so extrem aggressiv auftraten. Was läuft bei den beiden eigentlich schief? Warum sind sie immer so sarkastisch? Können die auch mal ernst sein? Nina biss sich auf die Lippe. Heute Morgen hatte sie wieder so ein fürchterliches Paket erhalten. Blutige Barbieteile. Langsam, aber sicher war das kein Spaß mehr. Nina glaubte nicht mehr an einen dummen, sehr makabren Scherz. Doch mit Dan konnte sie nicht darüber sprechen. Er würde sie nicht ernst nehmen. Niemand würde sie ernst nehmen. Vielleicht war das ja auch ein dummer Scherz von Leo oder Jen? Ihnen würde ich so etwas Geschmackloses zutrauen.
»Nina? Schatz? Alles okay?« Dan streichelte ihre Wange, riss sie auf diese Weise aus ihren Gedanken.
»Alles okay. Alles gut. Ich muss los. Unterricht und so.« Nina drückte Dan einen halbherzigen Kuss auf die Wange und eilte davon.

Dan runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte nicht mit Nina. Irgendetwas beschäftigte sie, da war er sich sicher. Nur was? Warum erzählt sie mir nicht, was sie beschäftigt? Ob sie mit mir Schluss machen will?
»Ehrlich, Dan, du solltest dir nicht ständig so viele Gedanken um Nina machen. Vielleicht hat sie ihre Periode. Vielleicht hat sie einfach nicht genug geschlafen. Vielleicht ist sie einfach sonst irgendwie gestresst. Denk doch mal, mit wem sie zusammen lebt. Da würdest du auch nicht ständig wie ein Glücksbärchi durch die Gegend laufen«, erklärte Charly plötzlich.
Kann sie meine Gedanken lesen? Dan warf ihr einen seltsamen Blick zu. Sie hängt eindeutig zu viel mit den beiden Stresserellas rum. Jen und Leo färben zu sehr auf sie ab.
Charly schnaubte, als Dan keinerlei Reaktion zeigte. »Ich weiß nicht, was du jetzt noch vorhast – außer Trübsal blasen –, aber ich geh jetzt zum Unterricht.«
Dan schenkte ihr keinerlei Beachtung. Seine Gedanken kreisten unentwegt um Nina. Wie in Trance bewegte er sich ins Gebäude und zum Unterricht.

***

»Sämäntha« wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger und lächelte selig. Sie hatte die ganze Zeit auf einer der Bänke im Außenbereich der Cafeteria gesessen und Jen beobachtet. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, ihre ehemalige Freundin – wenn man es denn so bezeichnen wollte – zu vernichten. Nicht nur, weil sie das Gefühl hatte, Ben irgendwie durch Jen verloren zu haben, sondern auch einfach nur, weil sie es konnte und weil sie ihr die Kaffeeduschen heimzahlen würde. Ihr Lächeln verblasste, als sie auf ihr Handy sah. Keine Nachricht von Ben. Seit Tagen meldete er sich nicht mehr bei ihr, ließ sich verleugnen. »Sämäntha« biss sich auf die Unterlippe. Sie fühlte sich gedemütigt. Wie kann er es wagen, mich nicht mehr zu wollen? Wie kann er mich zurück weisen? Ich bin das Beste, was ihm jemals passieren wird!
Mit einem gedämpften Seufzer schüttelte sie leicht den Kopf. Sie ging noch einmal die beiden Gespräche durch, die sie beobachtet und belauschte hatte. Der gutaussehende Südländer war sicher keine Schwachstelle von Jen, außer sie hatte sich unglaubliche Schauspielkünste angeeignet. Allerdings hatte »Sämäntha« bemerkt, wie dieser leicht verschüchterte, junge Mann Jen angehimmelt hatte. Vielleicht war er der Schlüssel, um Jen zu vernichten, um sich an ihr zu rächen. Wenn ich ihn dazu bringe, sich von ihr abzuwenden, wird sie das sicher verletzen. Mehr als damals die Sache mit Ben. Und das war schon hart. Aber vielleicht bekomm ich über ihn auch irgendetwas über sie heraus, was ich gegen Jen verwenden kann. »Sämäntha« rümpfte die Nase. Der Kerl war definitiv nicht ihre Liga, aber sie war bereit sich auf sein Niveau zu begeben, um ihr Ziel zu erreichen. Manchmal muss man eben Opfer bringen. In Gedanken malte sie sich ihren Plan aus und verdrängt die Traurigkeit, die Einsamkeit, die sich in ihr breit machen wollte. Ich lasse nicht zu, dass mit Ben aus der Bahn wirft! Er wird schon noch sehen, was er davon hat, dass er mich verlassen hat. Und Jen wird eindeutig dafür büßen! Es ist zu offensichtlich, dass sie ihre Finger im Spiel hat! Vielleicht sollte sie sich doch an den schnuckligen Südländer halten. Vorsichtshalber vielleicht auch an beide. »Sämäntha« lächelte glücklich.

Fatima wand sich. Sie krallte die Hände in das durchgeschwitzte Laken und stöhnte schmerzerfüllt. Ben lehnte im Türrahmen und beobachtete sie. Seit sie mit ihm nach dem Konzert nach Hause gegangen war, schien sie in einer Art Fiebertraum gefangen zu sein. Er hatte ihr heimlich noch mehr seines Giftes verabreicht. Danach war es ihr kurze Zeit besser gegangen, bevor sie sich wieder vor Schmerzen wand und krümmte. Sie wird mir doch jetzt wohl nicht sterben! Nicht hier! Nicht jetzt! Ben war hin und hergerissen. Sein Gewissen drängte ihn dazu, Fatima ins Krankenhaus zu bringen, doch der Wissenschaftler in ihm wollte mehr über die Wirkung seiner kleinen Mischung erfahren.
Als sie aufschrie, zuckte Ben zusammen. Vielleicht sollte ich ihr noch eine kleine Dosis verabreichen. Scheint, als wäre sie auf Entzug. Rasch zückte Ben eine Spritze mit der Flüssigkeit, die er für solche Fälle vorbereitet hatte und verabreichte Fatima die Flüssigkeit. Fasziniert bemerkte er, wie es ihr augenblicklich besser zu gehen schien. Sie entspannte sich, hörte auf zu Stöhnen. Doch sie schwitzte nach wie vor und schien immer noch in ihrem Fiebertraum gefangen zu sein. Er legte ihr eine Hand auf die Stirn. Sie glühte. Ihre Haut war viel zu heiß. Ben runzelte die Stirn. Mit dieser körperlichen Reaktion hatte er nicht gerechnet. Er zog sein Smartphone heraus und notierte sich die neusten Beobachtungen. Ich hoffe, sie hält noch ein bisschen durch. Ich muss wissen, welche Auswirkungen mein kleines Gemisch noch hat.

Samstag, 22. Dezember 2012

Schmankerl aus "Verführt" (unlektoriert und so weiter ;))



...
Ich streifte durch mein gemach. Ich lächelte schief. Gemach. Es klang so gar nicht nach mir. Aber so hatte Balthasar es bezeichnet.
Nein, eigentlich hatte er „Gemächer“ gesagt.
Ich schüttelte den Kopf. Angeblich hatten all diese Sachen mir gehört. An sich mag das ja schön und gut sein, aber ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern. Verärgert warf ich mich auf den Hocker vor dem goldenen Schminktisch. Skeptisch betrachtete ich die kostbaren Möbelstücke. Den Schmuck. Die Bilder. Es wirkte gar nicht so düster und böse, wie ich erwartet hatte.
Aber- was hatte ich denn genau erwartet?
Ich wusste, ich war hier im Palast der Dunkelheit. In der Hölle, wie die Menschen es nennen würden. Aber ich wusste nicht warum. Ich nahm Balthasar die Geschichte mit dem „wir haben dich wieder zum Leben erweckt“- ding nicht ab. Nicht eine Sekunde glaubte ich an dieses Märchen.
Und dennoch…mir fehlten Erinnerungen. Ich hatte eine große Lücke in meinem Gedächtnis und das trieb mich in den Wahnsinn.
Hat er Recht? Haben sie es wirklich nur gut mit mir gemeint? Bin ich in Wirklichkeit eine von ihnen?
Etwas musste ja stimmen. Woher hätte ich sonst den schwur kennen sollen, den ich vor wenigen Augenblicken geleistet hatte?
Es klopfte. Überraschte zog ich eine Augenbraue hoch.
»ja?«
»ich bin es, Balthasar. Darf ich reinkommen?«
Ich lächelte. Seine Stimme hatte so zaghaft geklungen, dass ich nicht anders konnte.
»ja, komm rein.«
Ich erhob mich, um ihm entgegen zu treten. Doch er war schneller. Als er durch die Tür schritt, war ich nicht auf die Gefühle gefasst, die er in mir hervorrief.
Die meisten davon kannte ich. Begehren, ein unerklärliches verlangen. Aber diese Sehnsucht, dieses Herzklopfen war neu. Fast so, als wäre ich in ihn verliebt. Ich schloss die Augen, lächelte schief und schüttelte unwirsch den Kopf.
»was ist los? Geht es dir nicht gut?«, besorgt war er so nah an mich getreten, dass ich seine Sorge um mich spüren konnte. Als ich den blick hob, bemerkte ich, wie nah sich unsere Gesichter waren.
Seine Augen waren dunkel, ein Hauch Gold funkelte in ihnen. Wie kleine Pünktchen ließen sie sie strahlen. Sein Körper strahlte eine Wärme aus, die mich anzog. Ich verspürte plötzlich den Wunsch von ihm berührt zu werden und drängte mich unbewusst an ihn. mit einem liebevollen lächeln schloss er mich in seine Arme.
Ich spürte, wie sein Puls raste. Wie sein Herz wild klopfte. Wie er unwillkürlich zitterte, als ich mit meinen Fingern vorsichtig über seine arme strich. Er stieß einen Seufzer aus. Genüsslich. Voll Leidenschaft.
Sein blick verdunkelte sich. Er atmete schwerer. Ich verkniff mir nur schwer ein breites Grinsen.
»du spielst mit dem Feuer, ist dir das eigentlich klar?« seine Stimme klang rau. Ich konnte das Grinsen nicht länger verbergen.
»ich glaub, damit kann ich umgehen.« ich umfasste mit einer Hand seinen Nacken und zog seinen Kopf zu mir.
Als sich unsere Lippen berührten, übernahm etwas animalisches mein denken. Insgeheim schreckte ich vor dieser ungezügelten, unkontrollierten Seite meines Wesens zurück, andererseits wollte ich sie nicht aufhalten. Ich wollte ihr nachgeben.
Ich drängte mich enger an ihn. nicht gewillt, ihn auch nur für einen Augenblick loszulassen, zog ich ihn mit mir, als ich rückwärts zum Bett ging.
Wenn man das Bett nennen kann!
»was tust du da?«
»sht! Sei einfach still, ja?«, ich verschloss seinen Mund mit meinem. Ich konnte spüren, wie sein widerstand schwand. Triumphierend glitten meine Hände über seine erstaunlich muskulöse Brust und genoss es, dass meine Berührung bei ihm eine Gänsehaut hervorrief. Er zitterte vor Erregung. Mit einem wissenden lächeln ließ ich mich nach hinten auf die weiche Matratze fallen und zog ihn mit mir. Sein Atem strich heiß meinen Hals entlang. Mein Puls beschleunigte sich. Fasziniert beobachtete ich wie er fahrig, angestrengt die Beherrschung zu bewahren, mit den Händen durch sein Haar fuhr. In seinen Augen glomm es rot auf, als er Magie benutzen wollte. doch seine Konzentration reichte bei weitem nicht aus, um auch nur eine Kerze anzuzünden. Überrascht bemerkte ich, dass auch ich nah dran war die Beherrschung zu verlieren. Als ich sein Hemd aufknöpfte, zitterten meine Hand so stark, dass ich mit einem genervten fauchen einen Dolch aus seinem Gürtel zog und es einfach aufschnitt. Bewundernd betrachtete ich das Spiel seiner Muskeln und strich sanft mit den Fingerspitzen über seine Brust. Einem Impuls folgenden riss ich mit meinem Fingernagel einen tiefen Kratzer in seine Haut. Mit der Zunge leckte ich über die wunde. Meine Sinne explodierten, als ich sein Blut schmeckte. Ohne zu wissen was geschah, saß ich plötzlich rittlings auf ihm und zückte wieder seinen Dolch. Dieses Mal zog ich mit voller Absicht einen tiefen schnitt über seine Brust und beobachtete wie Blut herausquoll. Genüsslich beugte ich mich zu ihm, meine Zunge glitt langsam über die Wunde und nahm das Blut auf. Ich richtete mich wieder auf und hielt seinen Blick fest, als ich den Dolch über meine Haut gleiten ließ. Ein tiefer Schnitt zog sich über meine Halsbeuge und ich lächelte ihn auffordernd an.
Für einen kurzen Moment starrte er mich einfach nur an.
Dann siegte sein Verlangen- und der Dämon in ihm. Ich keuchte, als seine Lippen auf meiner Haut wanderten und eine brennende Spur hinterließen. Ich warf den Kopf in den Nacken. Ein wohliges seufzen entfuhr mir, als er die wunde mit einem Kuss verschloss. Er bedeckte meine Haut mit federleichten küssen, als sein Mund an meinem Hals hinab wanderte. Seine Hände lagen warm und fest auf meiner Hüfte. Ich verlor mich in der Intensität meiner Gefühle, wurde von verlangen und Leidenschaft übermannt.
Er ergriff den Dolch, den ich achtlos fallen gelassen hatte und schnitt mir ruckartig die Korsage auf. Mit glühenden Augen hielt er meinen Blick fest, als er unter den Bund meiner Jeans fuhr. Mit mühe schaffte ich es mich weit genug zu konzentrieren, um mithilfe von Magie störende Kleidungsstücke verschwinden zu lassen.
Plötzlich lag ich unter ihm. Er hielt meine arme neben meinem Kopf fest und drückte mich in die Kissen. Mit einem gefährlichen grinsen entblößte er seine blitzenden zähne, beugte sich zu mir und biss mir in den Hals. Ich wand mich. In mir brannte ein begehren, ein verlangen, dass mich zu verzehren drohte.
Einer Eingebung folgend beschwor ich eine schmerzhafte kälte auf meine Haut.
Er keuchte. Sein Atem ging stoßweise.
»bist du dir sicher?«, knurrte er schon fast, seine Lippen heiß an meinem Hals.
Ich schluckte. Nickte. unfähig zu antworten.
Mein Blut rauschte wild durch meine adern. Mein Herz raste so schnell, dass ich glaubte es würde gleich zerspringen.
Als ich mich ihm hingab, meiner leidenschaft nachgab, verlor alles an bedeutung. ich schlang meine Beine um seine Hüfte und zog in enger zu mir.
Sein Blut vermischte sich mit meinem, als wir miteinander verschmolzen. Das brennen seines Feuers auf meiner Haut trieb mich weiter in den Strudel der Ekstase.
Bevor ich mich darin verlor, fuhr ich fest mit meinen Fingernägeln über seinen Rücken, zog ihn mit mir. Trieb ihn an den Rand des Wahnsinns, bereit mit ihm in den Abgrund der Leidenschaft zu springen.
Mein Körper wand sich vor verlangen, bog meinen Rücken durch und hob meine Hüften drängend ihm entgegen- ich wollte, dass er ganz mir gehörte. Mir allein!
Sein kehliges stöhnen erklang in meinem Ohr. Ich öffnete den Mund…

ein schrei drang durch die Nacht. Tief, heiser, qualvoll.
»Raphaios! Was ist passiert? Was ist los?« Angelios eilte an seine Seite. Raphaios kniete auf allen vieren am Boden, keuchte und stöhnte. Begehren, verlangen, Leidenschaft- ein wilder Strudel der Gefühle hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Für einen kurzen Moment war er verwirrt gewesen, bis er begriff, dass er IHRE Gefühle empfand.
Ein stechender Schmerz breitete sich in seiner Brust aus. Wie kann sie mir nur so etwas antun?
»Raphaios? sprich mit uns!« Anarias sanfte Stimme klang besorgt. Er schloss die Augen, Verzweiflung und Eifersucht benebelten sein denken. Er kämpfte die Wut, den Zorn nieder, der ihn zu überwältigen drohte. Mit mühe und Not gelang es ihm sich aufzurichten.
»ich habe…Gefühle empfangen…dachte, es sei ein Traum…aber es sind ihre…eindeutig.«, schwer atmend fiel ihm das reden schwer. Es waren nicht seine Gefühle, die ihn aus der bahn warfen, dennoch kam es ihm so vor, als würde er sie am eigenen Leib erfahren. Als wäre er an ihrer Stelle.
Ein erschreckender Gedanke.
»was…war es? Wenn es dich aus deinem Schlaf gerissen hat, muss es ziemlich heftig gewesen sein.«
Manchmal bist du ein riesen Rindvieh, Ang!
»unwichtig. Lasst uns noch ein wenig ruhen. Uns steht ein langer Weg bevor, wenn wir sie zurück holen wollen.«
Doch will ich sie zurück? Sie hat gesagt, sie liebt mich. Dennoch liegt sie bei einem anderen.

Angewidert sah er sich um. Die Welt der Menschen war ihm fremd. Alle wirkten hektisch, abgekämpft. Keiner würdigte dem mächtigen Tor, unter dem er stand, auch nur einen blick.
Wie können sie sich dieser Magie verschließen? Hier ist das einzige, nicht verschlossene Tor zur weltengrenze!
Er schüttelte den Kopf und verzog angeekelt das Gesicht, als er eine Duftwolke wahrnahm, die von seinen Haaren ausging.
Gut, bevor ich mich auf die Suche nach dem Träger mache, gibt es dringlicheres. Dieser Körper braucht dringend ein Bad!
Er wühlte in den Taschen der abgenutzten Lederjacke. Kein Portemonnaie. Erwartungsgemäß.
Also rieche ich nicht nur wie ein heimatloser, ich bin auch noch einer. Ich brauche einen neuen Wirtskörper! Oder aber…
Ihm kam eine Idee. Die Hände tief in den Taschen seiner Jeans vergraben, stiefelte er vom schwarzen Tor weg. Er überquerte die hochbrücke, als ihm das hotel-schild ins Auge stach.
Mit einem breiten Grinsen machte er kehrt und ging darauf zu.
Warum nicht? immerhin bin ich ein Magier.
Pfeifend schritt er auf den Hoteleingang zu und betrat das Foyer.
Wenn ich schon in dieser magielosen Welt wandeln muss, kann ich es wenigstens bequem machen!
Er trat an die Rezeption, den blick fest auf das Gesicht der Empfangsdame geheftet.
Abschätzig betrachtete sie sein Erscheinungsbild.
Er konzentrierte seine Macht und registrierte spöttisch wie ihr blick glasig wurde und sie ihn dümmlich anlächelte, willig ihm jeden Wunsch zu erfüllen.
»Mein Name ist Leo Lumbre und ich würde gern eines Ihrer Zimmer mieten.«
 ....

Sonntag, 9. Dezember 2012

Der schwarze Rosenkranz



Spanien, 16. Jahrhundert

Sie rannte. Ihre Schritte hallten durch die dunklen Gassen. Sie vergaß alle Vorsicht, denn sie durfte nicht zu spät kommen. Sie durfte nicht versagen. Sie musste ihn erwischen, bevor er sich genährt hatte. Erneut. Ohne, dass sie ihn daran hindern konnte.
Ihre linke Hand schloss sich krampfhaft um den schwarzen Rosenkranz, den sie immer bei sich trug. Lautlos begann sie auf Latein zu beten, während sie durch die Nacht eilte.
Es war ihre Aufgabe ihn aufzuhalten. War es immer gewesen. Dennoch hatte sie das Gefühl in diesem Fall, in diesem Jahrhundert zu versagen.
»Das darf nicht sein! Ich versage nie!«, entfuhr es ihr leise. Als sie um eine Ecke bog, stieß sie mit jemandem zusammen. Wütend rappelte sie sich auf und wollte weitereilen, als sie jemand festhielt.
»Was…?«
»Amalia! Bist du von Sinnen, dich allein auf den Weg zu machen? Weißt du denn nicht, dass du nicht stark genug bist, wenn wir nicht bei dir sind?« Eine Stimme wie Samt drang an ihr Ohr. Mit einem Fauchen riss sie sich los.
»Alexander! Ich habe dich gewarnt. Wenn du mich aufhältst, entkommt er uns. Dann wird es ein weiteres Opfer geben. Willst du das etwa vor IHM verantworten?«
Amalia wartete nicht auf eine Antwort. Sie rannte weiter durch die menschenleeren Straßen Sitges‘. Sie raffte ihre Röcke, während sie die Stufen zur Kirche hinauf eilte. Als sie auf den glatten, in den nackten Fels gehauenen Stufen abrutschte, entwich ihr ein verärgertes Fauchen. Ein Schrei durchbrach die Stille der Nacht und Amalia verkrampfte sich. Sie wagte noch immer nicht ihre wahre Gestalt anzunehmen. Wenn sie dabei beobachtet werden würde, würde das ihren Tod bedeuten.
So schnell sie konnte, kletterte sie die Stufen hinauf und stand auf dem großen Platz vor der Kirche. Das fahle Mondlicht brach sich an den goldenen Ornamenten der Tür, vor der jemand zu kauern schien.
Amalias Finger schlossen sich fester um den Rosenkranz. Langsam schritt sie auf die Gestalt zu. Je näher sie kam, desto deutlicher glaubte sie schmatzende Geräusche zu hören.
»Du kommst zu spät, Kriegerin.« Rau, misstönend drangen diese Worte an ihr Ohr. Amalia trat näher, den Rosenkranz immer noch fest umklammert.
»Was ist? Hat es dir die Sprache verschlagen, Gotteskrieger? Ihr seid doch immer furchtlos, wurde erzählt und nun sehe ich ein kleines Mädchen vor mir, das vor Angst kein Wort herausbekommt. Das soll alles sein? Du sollst die Gesandte Gottes sein? Lachhaft!«
»Elendiger Bastard! Du solltest es besser wissen! Ich bin nicht eine dieser kleinen Krieger, die ER immer wieder auf Erden schickt! Dieses Mal hast du dich mit jemandem angelegt, der definitiv eine Nummer zu groß für dich ist!« Amalias Nasenflügel blähten sich auf. Sie bebte vor Wut. Ein willkommenes Gefühl. Es verlieh ihr Macht, Kraft, Stärke.
»Sieh an, sieh an! Ich hätte nicht gedacht, dass auch ihr Gotteskrieger anfällig für eine Sünde seid! Hochmut kommt vor dem Fall, kleines Mädchen!« Der Dämon hatte von dem Bündel leblosen Fleisches am Boden abgelassen und schien sich ganz auf sie zu konzentrieren. Ein prüfender Blick Amalias reichte, um zu wissen, dass dieser Mensch noch gerettet werden konnte. Sie war also gerade noch rechtzeitig gekommen.
»Was glaubst du eigentlich, wen du vor dir hast?« Amalia lächelte den Dämon zuckersüß an. »Glaubst du allen Ernstes, du bist ein würdiger Gegner für mich? Das ich nicht lache! Schau genau hin und lerne!«
Bei diesen Worten streckte sie die Arme aus und legte den Kopf in den Nacken. Leise murmelte sie auf Latein ein Gebet, die »magische« Beschwörungsformel ihrer himmlischen Kräfte. Sie hörte, wie der Dämon keuchte, als ihre Venen in einem strahlenden Gold zu leuchten begannen. Die himmlische Kraft, die sie ihr Eigen nannte, erfüllte sie und ein Gefühl der Freiheit breitete sich in ihr aus, als sie endlich ihre wahre Gestalt annahm.
»Die … die Vergeltung Gottes! Du bist die Vergeltung Gottes!«, stammelte ihr Gegenüber mit brechender Stimme. Amalia breitete ihre Flügel aus, mächtige Schwingen aus strahlendem Gold.
»Ich sehe, du erkennst mich. Dann weißt du ja auch, welches Schicksal dich erwartet?« Amalia streckte beide Arme gerade nach unten. Gleißendes Licht schien aus ihren Handflächen zu kommen und zwei lange Schwerter mit gebogener Klinge erschienen. Mit einem grausamen Lächeln ging sie auf den Dämon zu. Für einen kurzen Moment schien es, als wollte er sich ergeben. Regungslos schien er Amalia zu beobachten, wie sie mit gezückten Schwertern auf ihn zukam.
Plötzlich sprang er nach vorne, direkt auf sie zu. Amalia wirbelte um die eigene Achse, die glänzenden Klingen in tödlicher Präzision ausgerichtet. Schmerzhafte Schreie durchdrangen die Nacht, als sich der glänzende Stahl in den Körper des Dämons bahnte.
Ein triumphierendes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Den Blick unverwandt auf ihn gerichtet, kniete sie sich über seinen blutenden Leib und rammte ihm ein Schwert ins Herz. Das andere ließ sie wieder in gleißendem Licht verschwinden.
»Nun bist du wohl nicht mehr so stark und mutig, kleiner Bastard!«, murmelte sie zufrieden. Mit der rechten Hand hielt sie sich am Griff ihres, immer noch im Dämon steckendes, Schwertes fest, während sie sich so weit zu ihm hinab beugte, dass sich ihre Gesichter fast berührten. Die linke Hand über seinem Gesicht schwebend, baumelte ihr schwarzer Rosenkranz vor seinen Augen. Zufrieden bemerkte sie die Angst, die ihn überkam.
»Im Namen des Herrn, verbanne ich dich aus dieser Welt, auf das deine Essenz für immer verloren geht! Ich bin die Vergeltung des Lichtes! Beuge dich meinem Urteil!«
Amalias Augen begannen hell zu leuchten, als sie die Essenz des Dämons in ihren Rosenkranz zog und dort verschloss.
Noch während sie sich erhob und das Schwert wieder zu Licht wurde, löste sich der Körper des Dämons in Asche auf. Sie senkte den Blick, konzentrierte sich, beschwor Wind und ließ diesen die Überreste hinfort wehen.
»Amalia! Ist alles in Ordnung mit dir? Bist du verletzt?«
Sie drehte sich um. Alexander war aufgetaucht und mit ihm auch die anderen zwei ihres Viererbundes.
»Alexander, Hannah, Johannes! Schön, dass ihr es auch mal geschafft habt! Mir geht es gut, aber dieser Mensch«, sie deutete auf das blutige Bündel an den Pforten der Kirche, »hat nicht mehr lange, wenn ihr ihm nicht schnell helft.«
Hannah und Johannes eilten sofort zu dem leblosen Wesen, dessen Blut den Boden tränkte. Alexander trat auf Amalia zu, die beobachtete, wie Hannah und Johannes die Seele des Menschen daran hinderten, die sterbliche Hülle zu verlassen. Sie sah, wie Hannah ihre Kräfte einsetzte, um neues Fleisch, neues Blut entstehen zu lassen. Alexander schloss sie in die Arme und Amalia schenkte ihm endlich ihre Aufmerksamkeit.
»Was ist?« Sie klang ungehalten.
»Du bist verletzt. Ich kann es sehen. Lass dir bitte von Hannah helfen. Bitte! Und versprich mir, dass du nie wieder alleine losgehst!« Sie glaubte, Tränen in seiner Stimme zu hören und warf ihm einen verwunderten Blick zu.
»Alexander, was hast du denn?« Amalia rückte ein Stück von ihm weg, den Kopf geneigt, um ihn besser beobachten zu können.
»Ich ertrage es nicht, wenn du verletzt wirst! Ich ertrage den Gedanken nicht, dass ein anderer Hand an dich legt! Du magst vielleicht als oberste Kriegerin auserwählt sein, aber ich wünschte, es wäre nicht so! Ich weiß nicht, ob ich es ertragen könnte, wenn du nicht mehr bist! Wenn dir etwas geschieht! Du bist die Vergeltung und ich die Gerechtigkeit! Wir können ohne den anderen nicht sein! So ist es uns bestimmt!«
Mit einem sanften Lächeln auf dem Gesicht bettete sie ihren Kopf an seine Brust. Ein warmes, wohliges Gefühl breitete sich in ihr aus.
»Du hast ja Recht. Es tut mir leid!«, murmelte sie. Alexanders Arme schlossen sich noch fester um ihren Körper.
Ein Husten riss die beiden aus ihrer Umarmung. Sie wandten sich beide um und erblickten das Opfer des Dämons. Lebendig, aber noch zu schwach, um aufzustehen, hatten Hannah und Johannes ihm das Leben gerettet.
Amalia und Alexander tauschten einen Blick. Sie wussten genau, was sie jetzt zu tun hatten. Amalia, noch immer ganz der Engel, trat an den Menschen heran und legte ihm sanft die Hand auf die Stirn. Ihre Augen erstrahlten heller als zuvor bei der Verbannung des Dämons. Der Gesichtsausdruck des Menschen verlor sich, wurde weich, ausdruckslos, bevor er das Bewusstsein verlor. Mit Bedauern verwandelte sich Amalia in die junge Frau zurück, die sie hier in der Welt der Sterblichen vorgab zu sein.
Alexander hatte in der Zwischenzeit den Pastor der Kirche benachrichtigt. Zusammen eilten sie nun zu dem Verletzten, um ihn in den Schutz der Kirche zu bringen. Dort würden seine Wunden verheilen.
»Hast du all seine Erinnerungen gelöscht?«, fragte Alexander, während Johannes mithilfe des Pastors den Verwundeten in Sicherheit brachte.
»Natürlich. Und ich habe zudem sein Gedächtnis manipuliert. Er glaubt nun, von einem Banditen überfallen worden zu sein.«
»Unser Geheimnis ist also sicher?«, mischte sich Hannah flüsternd ein.
Amalia nickte. Sobald Johannes die Kirche verließ und die Pforten hinter ihm ins Schloss fielen, verschwanden die Vier in der sicheren Dunkelheit.

Hoch oben, auf der Spitze des Glockenturmes, stand eine Gestalt. Der Wind bauschte den dunklen Mantel auf, verhüllte sein Gesicht mit langen Strähnen seines Haares. Es schien, als würde sein Blick Amalia folgen. Als die junge Frau in den Schatten der Nacht verschwunden war, wandte sie sich ab und schien mit dem Nachthimmel zu verschmelzen. Der Wind trug leise seine Worte hinfort.
»Egal, wo du sein wirst, ich werde dich finden. Wir gehören zusammen. Für immer.«