Sonntag, 9. Dezember 2012

Der schwarze Rosenkranz



Spanien, 16. Jahrhundert

Sie rannte. Ihre Schritte hallten durch die dunklen Gassen. Sie vergaß alle Vorsicht, denn sie durfte nicht zu spät kommen. Sie durfte nicht versagen. Sie musste ihn erwischen, bevor er sich genährt hatte. Erneut. Ohne, dass sie ihn daran hindern konnte.
Ihre linke Hand schloss sich krampfhaft um den schwarzen Rosenkranz, den sie immer bei sich trug. Lautlos begann sie auf Latein zu beten, während sie durch die Nacht eilte.
Es war ihre Aufgabe ihn aufzuhalten. War es immer gewesen. Dennoch hatte sie das Gefühl in diesem Fall, in diesem Jahrhundert zu versagen.
»Das darf nicht sein! Ich versage nie!«, entfuhr es ihr leise. Als sie um eine Ecke bog, stieß sie mit jemandem zusammen. Wütend rappelte sie sich auf und wollte weitereilen, als sie jemand festhielt.
»Was…?«
»Amalia! Bist du von Sinnen, dich allein auf den Weg zu machen? Weißt du denn nicht, dass du nicht stark genug bist, wenn wir nicht bei dir sind?« Eine Stimme wie Samt drang an ihr Ohr. Mit einem Fauchen riss sie sich los.
»Alexander! Ich habe dich gewarnt. Wenn du mich aufhältst, entkommt er uns. Dann wird es ein weiteres Opfer geben. Willst du das etwa vor IHM verantworten?«
Amalia wartete nicht auf eine Antwort. Sie rannte weiter durch die menschenleeren Straßen Sitges‘. Sie raffte ihre Röcke, während sie die Stufen zur Kirche hinauf eilte. Als sie auf den glatten, in den nackten Fels gehauenen Stufen abrutschte, entwich ihr ein verärgertes Fauchen. Ein Schrei durchbrach die Stille der Nacht und Amalia verkrampfte sich. Sie wagte noch immer nicht ihre wahre Gestalt anzunehmen. Wenn sie dabei beobachtet werden würde, würde das ihren Tod bedeuten.
So schnell sie konnte, kletterte sie die Stufen hinauf und stand auf dem großen Platz vor der Kirche. Das fahle Mondlicht brach sich an den goldenen Ornamenten der Tür, vor der jemand zu kauern schien.
Amalias Finger schlossen sich fester um den Rosenkranz. Langsam schritt sie auf die Gestalt zu. Je näher sie kam, desto deutlicher glaubte sie schmatzende Geräusche zu hören.
»Du kommst zu spät, Kriegerin.« Rau, misstönend drangen diese Worte an ihr Ohr. Amalia trat näher, den Rosenkranz immer noch fest umklammert.
»Was ist? Hat es dir die Sprache verschlagen, Gotteskrieger? Ihr seid doch immer furchtlos, wurde erzählt und nun sehe ich ein kleines Mädchen vor mir, das vor Angst kein Wort herausbekommt. Das soll alles sein? Du sollst die Gesandte Gottes sein? Lachhaft!«
»Elendiger Bastard! Du solltest es besser wissen! Ich bin nicht eine dieser kleinen Krieger, die ER immer wieder auf Erden schickt! Dieses Mal hast du dich mit jemandem angelegt, der definitiv eine Nummer zu groß für dich ist!« Amalias Nasenflügel blähten sich auf. Sie bebte vor Wut. Ein willkommenes Gefühl. Es verlieh ihr Macht, Kraft, Stärke.
»Sieh an, sieh an! Ich hätte nicht gedacht, dass auch ihr Gotteskrieger anfällig für eine Sünde seid! Hochmut kommt vor dem Fall, kleines Mädchen!« Der Dämon hatte von dem Bündel leblosen Fleisches am Boden abgelassen und schien sich ganz auf sie zu konzentrieren. Ein prüfender Blick Amalias reichte, um zu wissen, dass dieser Mensch noch gerettet werden konnte. Sie war also gerade noch rechtzeitig gekommen.
»Was glaubst du eigentlich, wen du vor dir hast?« Amalia lächelte den Dämon zuckersüß an. »Glaubst du allen Ernstes, du bist ein würdiger Gegner für mich? Das ich nicht lache! Schau genau hin und lerne!«
Bei diesen Worten streckte sie die Arme aus und legte den Kopf in den Nacken. Leise murmelte sie auf Latein ein Gebet, die »magische« Beschwörungsformel ihrer himmlischen Kräfte. Sie hörte, wie der Dämon keuchte, als ihre Venen in einem strahlenden Gold zu leuchten begannen. Die himmlische Kraft, die sie ihr Eigen nannte, erfüllte sie und ein Gefühl der Freiheit breitete sich in ihr aus, als sie endlich ihre wahre Gestalt annahm.
»Die … die Vergeltung Gottes! Du bist die Vergeltung Gottes!«, stammelte ihr Gegenüber mit brechender Stimme. Amalia breitete ihre Flügel aus, mächtige Schwingen aus strahlendem Gold.
»Ich sehe, du erkennst mich. Dann weißt du ja auch, welches Schicksal dich erwartet?« Amalia streckte beide Arme gerade nach unten. Gleißendes Licht schien aus ihren Handflächen zu kommen und zwei lange Schwerter mit gebogener Klinge erschienen. Mit einem grausamen Lächeln ging sie auf den Dämon zu. Für einen kurzen Moment schien es, als wollte er sich ergeben. Regungslos schien er Amalia zu beobachten, wie sie mit gezückten Schwertern auf ihn zukam.
Plötzlich sprang er nach vorne, direkt auf sie zu. Amalia wirbelte um die eigene Achse, die glänzenden Klingen in tödlicher Präzision ausgerichtet. Schmerzhafte Schreie durchdrangen die Nacht, als sich der glänzende Stahl in den Körper des Dämons bahnte.
Ein triumphierendes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Den Blick unverwandt auf ihn gerichtet, kniete sie sich über seinen blutenden Leib und rammte ihm ein Schwert ins Herz. Das andere ließ sie wieder in gleißendem Licht verschwinden.
»Nun bist du wohl nicht mehr so stark und mutig, kleiner Bastard!«, murmelte sie zufrieden. Mit der rechten Hand hielt sie sich am Griff ihres, immer noch im Dämon steckendes, Schwertes fest, während sie sich so weit zu ihm hinab beugte, dass sich ihre Gesichter fast berührten. Die linke Hand über seinem Gesicht schwebend, baumelte ihr schwarzer Rosenkranz vor seinen Augen. Zufrieden bemerkte sie die Angst, die ihn überkam.
»Im Namen des Herrn, verbanne ich dich aus dieser Welt, auf das deine Essenz für immer verloren geht! Ich bin die Vergeltung des Lichtes! Beuge dich meinem Urteil!«
Amalias Augen begannen hell zu leuchten, als sie die Essenz des Dämons in ihren Rosenkranz zog und dort verschloss.
Noch während sie sich erhob und das Schwert wieder zu Licht wurde, löste sich der Körper des Dämons in Asche auf. Sie senkte den Blick, konzentrierte sich, beschwor Wind und ließ diesen die Überreste hinfort wehen.
»Amalia! Ist alles in Ordnung mit dir? Bist du verletzt?«
Sie drehte sich um. Alexander war aufgetaucht und mit ihm auch die anderen zwei ihres Viererbundes.
»Alexander, Hannah, Johannes! Schön, dass ihr es auch mal geschafft habt! Mir geht es gut, aber dieser Mensch«, sie deutete auf das blutige Bündel an den Pforten der Kirche, »hat nicht mehr lange, wenn ihr ihm nicht schnell helft.«
Hannah und Johannes eilten sofort zu dem leblosen Wesen, dessen Blut den Boden tränkte. Alexander trat auf Amalia zu, die beobachtete, wie Hannah und Johannes die Seele des Menschen daran hinderten, die sterbliche Hülle zu verlassen. Sie sah, wie Hannah ihre Kräfte einsetzte, um neues Fleisch, neues Blut entstehen zu lassen. Alexander schloss sie in die Arme und Amalia schenkte ihm endlich ihre Aufmerksamkeit.
»Was ist?« Sie klang ungehalten.
»Du bist verletzt. Ich kann es sehen. Lass dir bitte von Hannah helfen. Bitte! Und versprich mir, dass du nie wieder alleine losgehst!« Sie glaubte, Tränen in seiner Stimme zu hören und warf ihm einen verwunderten Blick zu.
»Alexander, was hast du denn?« Amalia rückte ein Stück von ihm weg, den Kopf geneigt, um ihn besser beobachten zu können.
»Ich ertrage es nicht, wenn du verletzt wirst! Ich ertrage den Gedanken nicht, dass ein anderer Hand an dich legt! Du magst vielleicht als oberste Kriegerin auserwählt sein, aber ich wünschte, es wäre nicht so! Ich weiß nicht, ob ich es ertragen könnte, wenn du nicht mehr bist! Wenn dir etwas geschieht! Du bist die Vergeltung und ich die Gerechtigkeit! Wir können ohne den anderen nicht sein! So ist es uns bestimmt!«
Mit einem sanften Lächeln auf dem Gesicht bettete sie ihren Kopf an seine Brust. Ein warmes, wohliges Gefühl breitete sich in ihr aus.
»Du hast ja Recht. Es tut mir leid!«, murmelte sie. Alexanders Arme schlossen sich noch fester um ihren Körper.
Ein Husten riss die beiden aus ihrer Umarmung. Sie wandten sich beide um und erblickten das Opfer des Dämons. Lebendig, aber noch zu schwach, um aufzustehen, hatten Hannah und Johannes ihm das Leben gerettet.
Amalia und Alexander tauschten einen Blick. Sie wussten genau, was sie jetzt zu tun hatten. Amalia, noch immer ganz der Engel, trat an den Menschen heran und legte ihm sanft die Hand auf die Stirn. Ihre Augen erstrahlten heller als zuvor bei der Verbannung des Dämons. Der Gesichtsausdruck des Menschen verlor sich, wurde weich, ausdruckslos, bevor er das Bewusstsein verlor. Mit Bedauern verwandelte sich Amalia in die junge Frau zurück, die sie hier in der Welt der Sterblichen vorgab zu sein.
Alexander hatte in der Zwischenzeit den Pastor der Kirche benachrichtigt. Zusammen eilten sie nun zu dem Verletzten, um ihn in den Schutz der Kirche zu bringen. Dort würden seine Wunden verheilen.
»Hast du all seine Erinnerungen gelöscht?«, fragte Alexander, während Johannes mithilfe des Pastors den Verwundeten in Sicherheit brachte.
»Natürlich. Und ich habe zudem sein Gedächtnis manipuliert. Er glaubt nun, von einem Banditen überfallen worden zu sein.«
»Unser Geheimnis ist also sicher?«, mischte sich Hannah flüsternd ein.
Amalia nickte. Sobald Johannes die Kirche verließ und die Pforten hinter ihm ins Schloss fielen, verschwanden die Vier in der sicheren Dunkelheit.

Hoch oben, auf der Spitze des Glockenturmes, stand eine Gestalt. Der Wind bauschte den dunklen Mantel auf, verhüllte sein Gesicht mit langen Strähnen seines Haares. Es schien, als würde sein Blick Amalia folgen. Als die junge Frau in den Schatten der Nacht verschwunden war, wandte sie sich ab und schien mit dem Nachthimmel zu verschmelzen. Der Wind trug leise seine Worte hinfort.
»Egal, wo du sein wirst, ich werde dich finden. Wir gehören zusammen. Für immer.«

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