Tag 22
Dan sah sich im
Seminarraum um. Die Zugfahrt war schweigend verlaufen, denn Leo hatte mit aller
Macht vermieden, neben Oliver zu sitzen. Sie hatte ihre Musik derart laut
eingestellt, dass das ganze Abteil mithören konnte, um nicht ansprechbar zu sein.
Dans Blick fiel auf die zusammengekniffenen Gesichtszüge von Jen und die
abweisende, fast schon verächtliche Miene Leos. Die beiden saßen durch einen dummen
Zufall nebeneinander. Dan war sich sicher, dass nicht viel fehlte, und eine der
beiden würde explodieren.
»Hey, was ist los?
Warum starrst du so angestrengt zu den beiden Zickenköniginnen?«, flüsterte
Nick ihm zu.
»Ich mach mir Sorgen.
Ich glaub, da kracht’s heut noch richtig.«
»Und wenn schon. Dann
wird’s hier wenigstens lustig. Dieses Seminar ist dermaßen langweilig, dass
nicht mal Kaffee hilft. Warum haben wir das noch mal so früh belegt?« Nick
legte den Kopf auf den Tisch.
»Weil wir dachten, mit
Jen und Leo wird’s lustig.«
»Ja, unheimlich lustig.
Wow. Total spannend und so.« Nick gähnte.
»Na, komm. Dafür sorgst
du ja für genug Aufregung, wenn du wieder mal zu spät kommst und einen deiner,
mittlerweile, legendären Auftritte hinlegst.«
»Einer muss ja für
Furore sorgen.«
»Furore? Was zum Geier
ist mit dir passiert? Fremdwörterlexikon zum Frühstück verschluckt?« Dan
runzelte die Stirn und betrachtete Nick genauer. Sein Freund streckte ihm die
Zunge heraus und widmete sich wieder dem Schreibblock. Dan beobachtete, wie
Nick mit einem Grunzen einen ganzen Absatz durchstrich, bevor er erneut mit krakeliger
Schrift etwas hinkritzelte. Irgendwas
stimmt da nicht. Seit ich Nick kenn, hat er eine gepflegte, leserliche
Handschrift. Sind denn jetzt alle verrückt geworden?
Eine plötzliche
Berührung schreckte ihn auf und er wandte den Kopf. Nina strahlte ihn an, ihr
Lächeln ließ sein Herz schneller schlagen.
»Ich fand das gestern
voll schön.« Nina griff nach seiner Hand und Dan sandte ein Stoßgebet gen
Himmel, dass sie sein aufgeregtes Zittern nicht bemerkte. Er befeuchtete nervös
seine Lippen und erwiderte zögernd ihr Lächeln.
»Ich fand es auch
schön. Sehr sogar. Und ich hoffe, wir wiederholen das so bald wie möglich.«
»Was wiederholt ihr so
bald wie möglich und was war schön?«, mischte sich Charly neugierig ein. Dan
unterdrückte ein Stöhnen und verdrehte die Augen, während ihm Nina mit den
langen Fingernägeln über den Handrücken fuhr. Er glaubte ein ärgerliches
Funkeln in ihren Augen zu erkennen.
»Und du glaubst, dich
geht das aus welchem Grund etwas an?«, säuselte Nina. Dan blinzelte. Oha, fährt da jemand seine Krallen aus?
»Ich hab doch nur
gefragt!« Charly blies die Backen auf und wandte sich offensichtlich beleidigt
ab.
Na
super! Erst Leo und Jen, jetzt die beiden. Bin ich hier der Zickendompteur?
»Also, wann wiederholen
wir das mal?«, schnurrte ihm Nina ins Ohr. Verwundert starrte Dan sie an. Er
verstand nicht, wie die Frauen einfach so ihre Stimmungen wechseln konnten.
Einerseits faszinierte ihn das, andererseits schreckte ihn das ab.
»Wann hast du denn
Zeit?«, antwortete er.
»Für dich immer!« Sie
schmachtete ihn an. Dan errötete.
Nick nagte nachdenklich
an seiner Unterlippe. Der Song in seinem Kopf stand. Zumindest die Melodie. Nur
der Text, mit dem Text war er nicht zufrieden. Er passte nicht zur Melodie in seinem
Kopf. Konzentriert, wie er war, nahm er sein Umfeld überhaupt nicht mehr zur
Kenntnis, stattdessen trommelte er mit den Fingerspitzen auf dem Tisch.
So entging ihm, dass
seine Professorin ihn schon mehrfach aufgerufen hatte.
»Nick, du Vollpfosten!
Die alte Vettel hat dich jetzt das vierte Mal aufgerufen! Was ist denn mit dir
los?« Dan stieß ihn seinen Ellenbogen unsanft in die Rippen.
»Alter!« Nick fuhr
wütend herum. »Schau dir die Scheiße an, die wegen dir passiert ist!«
Nick deutete mit einer
Handbewegung auf den Strich, der sich quer über das Blatt zog.
»Jetzt komm mal wieder
runter. Das ist ‘n Bleistift. Man, man, man. Sei lieber vorsichtig, dass dich
die Jürgens nicht auf den Kicker hat. Die ist sowieso schon tierisch angepisst,
weil die Referatsgruppe kurz vor knapp hingeschmissen hat.«
»Die Alte kann mich
mal!« Nick widmete sich wieder seinem Block. Warum meinen eigentlich immer alle, dass sie mich volllabern können?
Ich arbeite! Sehen die das nicht!? Ich bin Musiker, mich darf man nicht stören!
Nick fluchte, als die
Spitze seines Bleistiftes abbrach.
Sie starrte auf ihre
Fingernägel. Sie hatte sich gewünscht, dass Dan sie ablenken würde, doch der
hatte nur Augen für Nina. Dabei hatte sie gehofft, dass er ihr von dem
sagenhaften Date erzählen würde. Es hatte sie schon viel Überwindung gekostet,
überhaupt in die Uni zu gehen. Als die Erinnerungen an das Wochenende wieder
hochkamen, begann sie zu zittern. Charly schloss die Augen, atmete tief durch
und versuchte sich zu beruhigen. Verdammt,
ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Ich fühl mich nicht mehr sicher. Ich
will nach Hause. Ich will einfach nur nach Hause!
»Charly?«
Sie wandte den Kopf und
erblickte Leos besorgtes Gesicht.
»Ja?« Verdammt! Warum hab ich mich nicht unter
Kontrolle? Warum zittert meine Stimme so? Hoffentlich bemerkt sie es nicht.
»Was ist los? Du siehst
echt scheiße aus. Geht’s dir nicht gut? Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Ne, Leo, passt schon.
Aber … sag mal … du wirkst immer so abgebrüht. So, als könnte dich nichts aus
der Bahn werfen. Ich mein, klar, du hast ab und an die Angst vor Ben gezeigt,
aber bis auf das eine Mal, als du verschwunden warst, hat man dir das gar nicht
angemerkt. Woran liegt das? Wie machst du das? Gibt es da einen besonderen
Trick? Magst du mir den verraten?« Charly konnte erkennen, dass sie Leo damit
überraschte und seltsamerweise auch zu verunsichern schien.
»Nun, also, eigentlich
gibt’s da keinen Trick.«
Charly runzelte die
Stirn.
»Charly, Süße, wirklich.
Naja … ich unterdrück und verdräng alles, was mich irgendwie aus der Bahn
werfen kann. Oder werfen will. Du weißt wie ich das mein. Wieso willst du das
wissen? Was ist passiert?« Leo legte Charly eine Hand auf den Arm und lächelte.
»Ach, nichts Wichtiges.
Ich möchte nur vorbereitet sein, falls das mit Nick … du weißt doch, dass ich
ihn toll finde und alles. Und wenn er mich wirklich nicht will oder mir das
Herz bricht, möchte ich vorbereitet sein.«
»Damit er nicht merkt,
wie sehr er dich verletzt hat?« Leo klang verständnisvoll.
Charly nickte. Sie war
erleichtert, dass Leo ihr so leicht glaubte. Ich sollte es wirklich versuchen.
Wenn Leo meint, dass das mit dem Unterdrücken und Verdrängen klappt, dann
sollte ich das echt mal ausprobieren.
»Leo?«
»Ja?«
»Klappt das wirklich?«
Leo schien zu
überlegen. Charly hielt die Luft an. Was,
wenn sie jetzt sagt, dass es nicht funktioniert? Muss ich dann in ständiger
Angst leben?
»Nun, es klappt nicht
immer. Aber ich bin ein Kontrollfreak. Ich will mich nicht ausliefern, sondern
mein Leben selbst kontrollieren. Daher sorg ich dafür, dass mich nichts aus der
Spur bringen kann. Zumindest dauerhaft. Und wenn es mich doch mal einholt, dann
hilft viel Alkohol.«
»Das ist ja wohl der
größte Schwachsinn, den ich jemals gehört hab! Aber war klar, dass so was von
dir kommt, Leo.« Jen schnaubte und warf den beiden einen offensichtlich
verächtlichen Blick zu. Charly zog den Kopf ein. Scheiße, das wird jetzt gleich richtig unangenehm.
»Halt dein dummes Maul!
Was mischt du dich da eigentlich ein, du blöde Kuh? Komm, geh Ben anschmachten
und halt dein den Mund, wenn Erwachsene reden.« Leos Stimme war eiskalt und
Charly schauderte, als sie den Ausdruck in den Augen ihrer Freundin sah. Ich darf nicht vergessen, mich niemals mit
Leo anzulegen!
»Uh, fühlen wir uns als
etwas Besseres, nur weil wir die Seminarälteste sind? Ooh!«
Charly schüttelte den
Kopf. So dumm, wie kann man nur so dumm
sein? Wenn Leo mich so anschaute, würd ich einen Teufel tun und sie noch weiter
verärgern.
»Boah, Mädel, ich weiß
jetzt endlich, was Ben an dir findet. Du bist genauso beschränkt wie er! Mein
Gott, ihr passt so perfekt zueinander. Wenn du jetzt noch so verlogen und
hinterhältig und gewalttätig wirst wie er, dann wird man euch nicht mehr
auseinanderhalten können. Ist das nicht die beste Grundlage für eine perfekte
Beziehung? Ihr solltet euch beim Fernsehen bewerben! Und wenn du mich jetzt entschuldigst,
Jennifer, ich hab Besseres zu tun, als mich von dir langweilen zu lassen!«
Charly zog den Kopf
ein. Vorsichtig sah sie sich um und stellte fest, dass alle im Seminar Leo anstarrten.
Ohoh.
»Frau Haag! Frau
Schnee! Verlassen Sie auf der Stelle mein Seminar! Führen Sie draußen Ihre
private Unterhaltung fort und stören Sie jene nicht weiter, die hier etwas
lernen wollen! RAUS!«, hallte die Stimme der Professorin durch den Raum.
»Als ob hier
irgendjemand etwas lernen will.«, murmelte Leo, als sie ihre Sachen in die
Tasche warf.
»Die sind doch froh,
wenn sie hier rauskommen.«, flüsterte Jen mit einem breiten Grinsen auf dem
Gesicht. Für einen kurzen Moment schien Frieden zwischen den beiden Frauen zu
herrschen. Doch als sie aus dem Raum rauschten, erschrak Charly über die feindseligen
Blicke, die die beiden austauschten.
»Na, das musste ja so
kommen. Aber die beiden haben es verdient! Drama Queens!«
Charly wandte sich dem Kerl
neben ihr zu und sah ihn verständnislos an.
»Wie kannst du so was
sagen? Immerhin sind sie unterhaltsam! Sei doch froh, dass sie ein bisschen die
Stimmung auflockern.«
»Frau Kaufmann, wenn
Sie den beiden Damen, die ich eben hinausgeworfen habe, Gesellschaft leisten
wollen, dann machen Sie so weiter!«
Charly verkniff sich
eine Bemerkung, ignorierte den hämischen Blick ihres Sitznachbarn und tat so,
als würde sie sich dem Text widmen.
***
»Das ist alles deine
Schuld! Wieso musst du mich immer in die Scheiße reiten?« Jen schleuderte ihre
Tasche in die Ecke und funkelte Leo an. Diese kramte scheinbar seelenruhig in
ihrer Tasche und ignorierte Jen.
»Scheiße, nochmal! Ich
red mit dir! Antworte mir gefälligst!« Jen beobachtete wütend, wie Leo eine
Packung Gauloises herauszog, eine Zigarette herausklopfte und sie anzündete.
»Leo! Hallo? Hörst du
mich?«
Leo unterdrückte ein
Stöhnen. Himmel, ist die Alte nervig!
Sie warf die Zigarettenpackung wieder in die Tasche und atmete tief durch. Also
schön. Sie will eine Antwort, dann kriegt
sie die auch!
»Du hast mir deutlich
zu verstehen gegeben, dass du mit mir nichts mehr zu tun haben willst. Und
weißt du was? Du kannst mich mal! Ich seh es nicht ein, dass ich mich weiter um
dich bemühen soll, wenn du dann doch so beschissen dumm bist und dich auf
dieses Arschloch einlässt. Und dann noch seine Lügen glaubt. Ehrlich, Mädel,
wenn du meinst, du musst ins Verderben rennen, dann mach das getrost ohne
mich.«
Sie lächelte Jen
säuerlich an, ging an ihr vorbei zur Treppe, um sich in die Sonne zu setzen.
Soeben hatte sie die Augen geschlossen, als sie eine Hand auf ihrem Arm spürte.
»Du kannst mich doch
nicht einfach so stehen lassen!«
Leo erwiderte den
vorwurfsvollen Blick von Jen.
Das Mädel scheint ein
bisschen hysterisch zu sein, schoss es ihr durch den Kopf. Die wechselt ja ihre Stimmung häufiger, als ich die Kapsel meiner
Dolce–Gusto–Kaffeemaschine.
»Jen, ehrlich, lass
mich los. Ich hab absolut keinen Bock drauf, mit dir zu reden. Versteh das
endlich! Ich hab mir in Hamburg geschworen, alles zu meiden, was mit Ben zu tun
hat, und so lang du der festen Überzeugung bist, dass er dein Traummann ist,
werde ich mich von dir fernhalten, so leid es mir auch tut. Aber ich brauche
nicht noch mehr Chaos in meinem Leben. Ich mach nie zweimal denselben Fehler.«
Leo riss sich los und stapfte ein paar Stufen höher. Mit Schwung warf sie sich
auf die oberste Stufe und genoss die Sonne. Als sie ein Schluchzen hörte,
neigte sie den Kopf zur Seite und lauschte. Weint
Jen? Sie wandte sich um, doch Jen war verschwunden.
Nachdenklich richtete
Leo ihren Blick auf die Straße. Ihr schlechtes Gewissen meldete sich, doch sie
unterdrückte es.
***
Das Neonlicht stach Jen
in die Augen. Sie blinzelte und schniefte. Entsetzt stellte sie fest, dass sie
sich nicht nur beschissen fühlte, sondern genauso beschissen aussah. Rot
verquollene Augen, Tränenspuren auf den Wangen und eine laufende Nase – Jen war
nah dran, wieder loszuheulen. Scheiße,
ich hab nicht mal irgendwas dabei, um mir wieder ein menschliches Aussehen zu
verleihen.
»Hey, Jen?« »Sämäntha«
war neben sie getreten und hielt ihr etwas mit der ausgestreckten Hand hin.
»Was…?« Jen wischte
sich über die Augen und versuchte, normal zu wirken.
»Hier. Nimm mein Puder.
Dann sieht man nicht, dass du geweint hast. Ich hab mitbekommen, wie dieses
Miststück mit dir gesprochen hat.«
Jen erwiderte das
Lächeln der Blondine nur zögernd und ergriff die Puderdose. Mit raschen
Bewegungen versuchte sie die Spuren ihres Tränenausbruchs zu vertuschen.
»Siehst du, Jen. Das
sieht schon besser aus.«
Jen wandte den Kopf und
sah »Sämäntha« in die Augen.
»Warum bist du so nett
zu mir? Ich mein, bis jetzt hast du mir nicht den Eindruck vermittelt, dass du
mich magst.« Und ich mag dich auch nicht
sonderlich.
»Ich mag dich! Ich weiß
gar nicht, wie du auf die Idee kommst, dass ich dich nicht mögen würde? Ich
mein, ehrlich, du bist mir echt sympathisch.«
Wieso
glaub ich ihr das nicht? Aber ich kann ja nicht sonderlich wählerisch sein, was
meine Freundschaften angeht. Zumindest nicht zurzeit.
»Komm schon, wir müssen
los, Literatur beginnt gleich. Und du siehst schon viel besser aus. Man merkt
kaum noch, dass du geweint hast.«
Jen hob eine Augenbraue
und warf einen Blick auf den Arm um ihre Schultern. »Sämäntha« zog sie einfach
mit sich, und Jen ließ sie gewähren. Als sie die Treppenstufen vom
Untergeschoss hinauf kamen, lief ihnen Leo über den Weg. Jen erschrak über die
Verachtung, die sie in Leos Blick zu erkennen glaubte.
»Hey, scheiß auf die
Schlampe, du hast doch jetzt mich.«, erklärte ihr in diesem Moment »Sämäntha«
mit einem strahlenden Lächeln.
Na,
ob das so gut ist. Irgendwas führst du doch im Schilde!
Leo schnaubte
verächtlich, nachdem sie an Jen und ihrer Barbie-Freundin vorbeigelaufen war.
Sie hielt mit angewidertem Gesichtsausdruck die Luft an, während sie zu den
Toilettenräumen eilte. Nicht mal für Geld
würd ich hier unten aufs Klo gehen! Den Würgreiz unterdrückend, eilte sie
zu einem der weniger ekelhaft aussehenden Waschbecken, und zog hastig einige
Papiertücher aus der Halterung. Wenn Charly nicht so besorgniserregend
ausgesehen hätte, wäre sie niemals in diese stinkenden, urinverseuchten Katakomben
hinabgestiegen. Ungeduldig ließ sie kaltes Wasser auf die Tücher laufen und
eilte so schnell wie möglich wieder hinauf.
Kaum war sie auf den
Treppenstufen, wagte sie wieder durchzuatmen. Gott, ist das widerlich da unten! Leo eilte zu Charly, die mit
bleichem Gesicht an einem Tisch neben der Treppe saß, und vor sich hinstarrte.
Behutsam legte sie ihrer Freundin die Tücher in den Nacken und musterte sie
besorgt.
»Sicher, dass alles
okay ist? Irgendwas macht dich doch fertig. Magst du wirklich nicht mit mir
darüber reden? Komm schon. Vertrau mir.«
»Ach, Leo.« Charly
schien den Tränen nahe. Leo warf ihr einen auffordernden Blick zu.
»Süße, komm schon. Was
bedrückt dich?«
»Ich will nicht darüber
reden.« Charly sprang abrupt auf. Die Tücher klatschten mit einem patschenden
Geräusch auf den Boden. Leo seufzte. Na
gut, dann eben nicht.
Sie stand auf und machte
sich auf den Weg zu Spanisch.
***
Zusammen betraten Jen
und »Sämäntha« den Seminarraum. Neugierige und verwunderte Blicke folgten
ihnen, wie sie Arm in Arm zu einem freien Tisch gingen. Jen fühlte sich unwohl,
als sie das Tuscheln um sich herum wahrnahm.
»Du, Jen, sag mal …
dein Freund, Ben, der ist schon wahnsinnig heiß. Meinst du, er stellt mich
seinen Freunden vor? Einem, der genauso heiß ist wie er?«
Jen fiel die Kinnlade
herunter. Also das war dein Plan! Du
willst einen Kerl! Wahrscheinlich willst du am liebsten Ben, nicht wahr?
»Naja, das lässt sich
sicher einrichten. Ich kann ihn ja mal fragen.«
»Ich kann ja auch
direkt mitkommen. Das wär doch super!«
Jen ballte die Hände zu
Fäusten, während »Sämäntha« begeistert in die Hände klatschte. Zögernd nickte
Jen, was »Sämäntha« ein noch breiteres Grinsen aufs Gesicht zauberte.
»Wunderbar. Dann
schreib doch deinem Schatz, dass wir uns nach Literatur treffen, und er soll
einen seiner Freunde mitbringen.«
Jen kniff die Augen
zusammen und musterte »Sämäntha«. Scheiße,
ich muss mich wieder mit Leo vertragen. Lieber eine beste Freundin, die meinen
Kerl nicht ausstehen kann, als eine, die ihn mir ausspannen will. Um keinen
Verdacht zu erregen, zog Jen ihr Handy aus der Tasche und tippte Ben eine SMS:
Treffen
wir uns in zwei Stunden an der Uni? Ich soll dich was fragen. Und muss dir
dringend was erzählen.
Sie wandte sich
lächelnd »Sämäntha« zu, während die SMS verschickt wurde und erklärte:
»Ich frag ihn jetzt
erst mal, ob er Zeit hat. Dann sehen wir weiter, ja?«
»Aber …«, setzte
»Sämäntha« an.
»Hey, keine Angst. Er
muss doch erst mal Zeit haben, jemanden zu finden, der zu dir passt. Der
erstbeste ist doch gar nicht gut genug für dich.«
Jen sah, wie sich ihre
»neue« Freundin geschmeichelt fühlte. Zumindest lächelte »Sämäntha« noch
dümmlicher als zuvor. Ich bin gespannt,
wie Ben darauf reagiert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er von »Sämäntha«
so begeistert sein wird.
»Jen, ich freu mich,
dass wir Freundinnen sind.«
Freundinnen?
Ich glaube nicht, aber wenn du meinst, soll es mir recht sein.
Leo drängte sich an den
Studenten vorbei. In ihrer rechten Hand hielt sie einen Becher heißen
Milchkaffees umklammert, während sie nach Eduardo Ausschau hielt. Okay, ich kann Schleimscheißer wie ihn nicht
ausstehen, aber ich brauch Ablenkung. Wenn Charly nicht mit mir reden will und
Jen sich mit lebenden Barbiepuppen abgibt, dann kann ich mich auch auf
Tief-Niveau begeben.
»Hola, guapa«, hauchte
ihr jemand ins Ohr. Eduardo. Wenn man vom
Teufel tratscht.
»Hola, Eduardo. Wie
geht es dir?« Leo bemühte sich erfreut zu wirken. Er wär ja echt süß, wenn er mich nicht so unsagbar nerven würde.
»Jetzt, wo dein Anblick
meine Welt erstrahlen lässt, geht es mir wunderbar.« Eduardo zwinkerte ihr zu.
Leo biss die Zähne zusammen und unterdrückte den Brechreiz, der drohte, ihr
Frühstück wieder zum Vorschein kommen zu lassen. Nicht mal Ben hat in mir so
schnell eine derartig große Abneigung ausgelöst, musste sie sich eingestehen.
Allerdings verstand sie nicht, warum Eduardo ihr so auf die Nerven ging.
»Alles okay mit dir?«
Eduardo beugte sich zu ihr, so dass sein etwas zu dick aufgelegtes Parfum ihr
unangenehm in die Nase stieg. Er umfasste ihr Gesicht mit seinen Händen und kam
noch ein Stückchen näher.
Alter!
Rück mir nicht auf die Pelle!
Ȁh, ja. Ja, alles
okay. Mein Koffeinhaushalt ist nur im Eimer. Alles gut. Alles gut.« Leo wand
sich möglichst unauffällig aus Eduardos Berührung und ging lächelnd an ihm
vorbei. Sie hatte kaum den Raum betreten, als Beatrix sie mit mörderischen
Blicken taxierte. Die Augen verdrehend warf Leo ihr ein süßliches Lächeln zu,
zwinkerte und setzte sich demonstrativ an einen Platz, von dem aus Beatrix sie
bestens sehen konnte. Als Eduardo kurz darauf hereinstolperte, konnte Leo es
sich nicht nehmen lassen und hob die Hand, um ihm zu bedeuten, sich neben sie
zu setzen. Sein freudestrahlendes Gesicht weckte ihr schlechtes Gewissen. Aus
den Augenwinkeln sah sie, dass Beatrix aus Eifersucht kurz vor dem Ausrasten
stand. Ein seltsam befriedigendes Gefühl der Schadenfreude breitete sich in Leo
aus und sie lächelte. Zufrieden nippte sie an ihrem Kaffee. Das wird ein guter Tag.
»Du, sag mal…« Eduardo
strich ihr mit den Fingerspitzen über ihren Arm »…hast du heut schon was vor?«
Leo sah ihn überrascht
an.
»Eigentlich nicht.
Außer, dass ich schnell nach Hause wollte. Wieso?«
»Dann lass uns doch
einen Kaffee trinken gehen. Oder wartet auf dich jemand daheim, dass du so
dringend hin willst?« Eduardo riss die Augen auf und klimperte mit den Wimpern.
Himmel?!
Versucht er da etwa eine Art Dackelblick?
Ȁhm, naja, nur mein
Hund eigentlich.«
»Der kann ja auch mal
ohne dich auskommen, oder?«
Digger,
der muss jeden Tag mindestens sechs Stunden ohne mich auskommen!
Eduardo schien nicht
genug Geduld zu haben, um auf ihre Antwort zu warten, denn sein Gesicht bekam
etwas Trauriges.
»Bitte! Nur einen
Kaffee! Du wirst es nicht bereuen!«
Oh
Gott! Es gibt nichts Erbärmlicheres als bettelnde Männer!
Leo neigte den Kopf
etwas, um eine bessere Sicht auf Beatrix zu haben. Als sie deren Blick auffing,
zwinkerte Leo ihr zu und verzog den Mund zu einem gehässigen Lächeln.
»Also gut. Einen
Kaffee. Aber wirklich nur einen.«
Eduardos Gesicht hellte
sich auf und er drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Ich freu mich! Du
wirst es nicht bereuen, das versprech ich dir!«
Ein Knacksen ließ die
beiden herumfahren. Beatrix starrte mit zornrotem Gesicht zu Leo und Eduardo,
in den Händen hielt sie ihr Iphone, das seltsam deformiert aussah.
»Fick die Henne! Hat
die Alte ihr Iphone zerdrückt?«, entfuhr es Mirko laut. Leo kicherte und
Beatrix wandte sich Mirko zu, das Gesicht zu einer Maske erstarrt.
»Wenn die mich so
ansehen würde, hätte ich echt Schiss!«, murmelte Eduardo und Leo nickte
zustimmend. Die könnte Jigsaw astrein
Konkurrenz machen mit ihrer Mörderstimmung.
Das Räuspern ihrer
Professorin ermahnte die Kursteilnehmer, sich wieder auf den Unterricht zu
konzentrieren und Beatrix geriet vorerst in den Hintergrund.
»Sämäntha« lächelte.
Sie freute sich, wie einfach es gewesen war, das Vertrauen von Jennifer zu
gewinnen. Jen, wer nennt sich denn
freiwillig Jen? Sie senkte den Kopf, um sich nicht zu verraten, während ihr
Lächeln breiter wurde und einen seltsam bösen Zug annahm.
Es gelang ihr nur schwer,
ihr schadenfrohes Lachen zu unterdrücken. Welch
glücklicher Zufall, dass ich die beiden hab streiten sehen. Wenn Leo in
unmittelbarer Nähe gewesen wäre, dann wäre sie eine Gefahr gewesen. Leo hätte
verhindert, dass ich mich Jennifer nähere. Sie hätte mich sofort durchschaut,
dieses Miststück! Wie sie mich angesehen hat! So voller Verachtung! So
herablassend! Sie ist die nächste, die mich kennenlernen wird! Aber zunächst
einmal muss ich mich um Jennifers Freund kümmern. Damit er in den richtigen
Händen ist.
»Sämäntha« schnurrte
beinahe schon vor Zufriedenheit, was ihr einen fragenden Blick von Jen
einbrachte. Schnell bemühte sie sich um einen unschuldigen Gesichtsausdruck.
»Ich hab gerade an das
Mittagessen gedacht. Nicht wundern.«
Jen zog die Augenbrauen
nach oben und wirkte amüsiert, aber mit der Antwort vollauf zufrieden. Beruhigt
atmete »Sämäntha« unauffällig durch. Noch
mal gut gegangen.