Dienstag, 23. Juli 2013

Auszug aus Café Diary 11: Prünhilt

Tag 71

Jen stand neben Leo, die mit einer missmutigen Miene am Treppengeländer lehnte und wie sie auf den Zug wartete. Und wie Leo war Jen nicht nach Reden zumute. Nicht nach einem Wochenende, an dem alles immer und immer wieder durchgekaut worden war - ohne Ergebnis. Fatima war weg. Mark, Lorena und Matthias bildeten immer noch eine Bedrohung. Überraschenderweise war es weder Ben noch Leo gelungen, einen halbwegs durchführbaren Plan aufzustellen. Oder eine Lösung zu finden, wie man die Drei stoppen könnte. Auf verstörende Art und Weise verunsicherte Jen das. Die kriminelle Energie Bens und Leos manchmal zu offensichtlich aufblitzende Kaltherzigkeit hatte sie hoffen lassen, das Chaos schnell zu beenden. Uns muss ganz schnell was einfallen! Die Zeit läuft uns davon und ich glaube nicht, dass wir große Überlebenschancen haben, wenn wir nicht bald handeln.
»Jetzt zerbrich dir doch nicht den Kopf über die drei Spackos. Wir werden schon eine Lösung finden. Wir finden immer eine Lösung.«
Jen runzelte die Stirn. Etwas in Leos Stimme verriet ihr, dass sie einen Plan hatte. Und so wie ich sie kenne und ihren Hass auf Matthias, wird das nicht angenehm werden. Also für ihn. Oder für uns, wenn’s Leo verkackt.
»Das war mein Ernst. Stop thinking about it! Ich kann dich bis hierher denken hören und es macht mich wahnsinnig!« Leo sah aus, als würde sie am Liebsten irgendetwas zerschmettern. Irgendetwas werfen. Jen’s Mundwinkel hoben sich automatisch ein Stückchen. Das war fast wieder die alte Leo. Die, die sie vor mehr als zehn Wochen kennen gelernt hatte. Ich fühl mich alt.
»Noch so ein Seufzer und ich schenk dir eine Rheumadecke. Glaubst du echt, du bist alt? Man, man, man. Komm mal in mein Alter. Wo steckt eigentlich Dan? Und Oliver? Der Zug hat Verspätung - sollten die beiden nicht längst hier sein? Haben wir irgendwas verpasst?«
Was geht denn jetzt ab?
»Ich hab keine Ahnung.« Was soll ich denn sonst sagen? Jen sah, wie Leo wieder diesen eigenartigen Ausdruck, den sie in letzter Zeit so häufig bei ihrer Freundin erkennen konnte, in den Augen bekam und wieder in ihren Gedanken versank.
Na dann nicht. Dann schweigen wir uns eben wieder an. Hab ich auch kein Problem mit.

Dan gähnte. Er versicherte sich noch einmal, dass Leo und Jen weit genug weg waren und nicht bemerkt hatten, dann warf er sich auf einen der metallenen Sitze und wartete. Ninas Besuch und das, was sie ihm erzählt hatte, beschäftigten ihn noch immer. Seine Freunde hatten so viele Geheimnisse vor ihm und er wusste einfach nicht mehr, ob er ihnen jemals wieder vertrauen konnte. Abgesehen davon wollte er Jen’s Genörgel, Leos schlechte Laune und Olivers nichtssagendes Geschwätz nicht hören. Ich sollte mir eine Wohnung in Tübingen suchen. Dann kann ich morgens entspannt zur Uni gehen und vielleicht kann Nina ja bei mir einziehen. Dann sind wir hoffentlich auch aus der Schusslinie.
»Ey, Dan!«
Dan verzog das Gesicht. Oliver. Scheiße. Da hat er mich wohl entdeckt. Wunderbar..
»Warum bist du denn nicht da drüben bei Leo und Jen?« Oliver blieb dicht vor ihm stehen.
Boah, hat dem denn nie einer gesagt, dass es echt bescheiden ist, jemandem so auf die Pelle zu rücken? Vor allem wenn man stinkt wie ein Bauernhof? Oder zumindest nicht gerade angenehm duftet?
»EY! LEO! JEN! HIER IST ER!« Oliver formte mit den Händen eine Art Megaphon und brüllte die beiden Freundinnen an. Nicht nur ihre Aufmerksamkeit und die aller anderen Anwesenden war ihm sicher.
Muss der so schreien? Dan rieb sich die Schläfen. Er sollte ein Buch schreiben. »Wie versaue ich es mir innerhalb eines Morgens mit allen Leuten meines Alters«. Würde sicher ein Bestseller werden.
»KOMMT MAL RAN! DAN SITZT HIER!«
Wäre ich jetzt Leo, hätte ich ihm längst die Zunge rausgerissen. Oder ihn anderweitig zum Schweigen gebracht. Vollidiot. Brüllt hier rum wie ein Gorilla und wundert sich, dass wir ihm aus dem Weg gehen. Dan beobachtete, wie Leo und Jen zusammenzuckten und sichtlich widerwillig zu ihnen trotteten. Leos Augen glitzerten, was, wie er mittlerweile wusste, kein gutes Zeichen war und Jen’s Gesichtsausdruck verriet, dass sie kurz vor einem Wutanfall stand. Okay, das wird heute noch richtig lustig. Leos Ausbruch hab ich ja verpasst. Aber Jen’s dürfte auch nicht schlecht werden.
»Ihr lahmen Schnecken! Beeilt euch doch mal. Ihr solltet definitiv mehr Kaffee trinken, wenn ihr zu müde seid, um euch zu bewegen.«
Dan verschluckte sich beinahe, als er sich das Lachen verkniff. Leos Augen waren mit einem Mal tiefschwarz geworden und der blanke Hass stand darin. Jen hingegen wirkte auf einmal seltsam friedlich und entspannt.Dan runzelte die Stirn. Eine tickende Zeitbombe wäre seiner Meinung nach wesentlich weniger gefährlich.
Der eintreffende Zug entschärfte die Situation ein bisschen. Während sie einstiegen, rieb sich Dan insgeheim die Hände. Das wird sicher eine wahnsinnig unterhaltsame Fahrt. Er runzelte die Stirn, als sich Leo plötzlich zu einem, ihm unbekannten jungen Mann setzte. Um aber nichts zu verpassen, steuerte er die freien Plätze auf der anderen Seite des Ganges an und winkte Jen zu sich.
»Kennst du den Kerl?«, wollte er von ihr wissen.
»Du meinst den, bei dem Leo sitzt? Nö, keine Ahnung. Aber sie scheint sich mit ihm besser zu verstehen als mit uns.«
»Bist du etwa eifersüchtig? Ich glaub, sie flüchtet eher vor Oliver und hat in dem Kerl ein Opfer gefunden, das sie volllabern kann.« Dan zog die Beine ein, als sich Oliver auf den freien Platz ihm gegenüber drängte und tauschte mit Jen einen genervten Blick. Er lehnte den Kopf gegen den Sitz und hoffte, dass Oliver vielleicht zufällig die Fähigkeit zu sprechen verlernen würde.
»Was macht denn Leo da drüben? Ey, Leo!« Oliver beugte sich nach vorne. Dan drückte sich unwillkürlich enger in seinen Sitz, um auszuweichen.

Leo wandte genervt den Kopf. Da setzte sie sich schon von ihren Freunden weg, um Oliver zu entkommen und dann das. Jetzt saß er mit den anderen quasi neben ihr und brüllte das halbe Abteil zusammen. Kann der nicht einmal Rücksicht nehmen, dass es zu früh für seinen Bullshit ist? Sie gähnte verhalten. Okay, ist das jetzt der Zwillingsbruder oder ist er es nicht?
»Du bist ... Michael, richtig?« Leo ärgerte sich über sich selbst, weil sie so zaghaft klang. Liebes Selbstbewusstsein, du darfst dich gerne ab und an mal blicken lassen!
»Du erinnerst dich an meinen Namen, das ist schön.«
Leo kniff die Augen zusammen. Sie hatte das Gefühl, auf den Arm genommen zu werden.
»Ja, ich hab aus meinen Fehlern gelernt. Ich glaub, so schnell verwechsel ich euch zwei nicht mehr.« Sie zwinkerte.
»Ey! Leo!«, blökte in diesem Moment Oliver dazwischen. »Magst uns nicht mal vorstellen?«
Sicher nicht. Leo schloss gequält die Augen. »Oliver - Michael. Michael - Oliver.«
»Hi.« Oliver schwang sich neben Leo, die sich vor Scham wand, und beugte sich nach vorne. »Ich stör euch doch nicht etwa, oder? Worüber habt ihr denn gesprochen? Muss echt interessant gewesen sein, wenn Leo ihre Freunde dafür vernachlässigt.«
Vernachlässigt? Nur weil ich dir Spacko ausweich? Na danke!
Michael schien peinlich berührt zu sein und nicht zu wissen, was er jetzt sagen oder wie er reagieren sollte. Leo ballte die Hände zu Fäusten.
»Ey, Oliver, du verficktes Trampeltier! Siehste nicht‘, dass die beiden keinen Bock auf dich haben? Dass die lieber für sich sind? Und dass Leo dir sogar schon ausweicht und sich zu so einem Streber setzt?« Jen’s zornige Stimme übertönte auch das Hupen des Zuges. Leo warf Michael einen zerknirschten und entschuldigenden Blick zu. Der muss ja auch denken, wir sind die totalen Freaks.
»Du merkst echt nicht, wie nervig dein dummes Geschwätz ist! Du mischt dich in Sachen ein, die dich nichts angehen und von denen du absolut keine Ahnung hast! Aber Hauptsache du hast mitgeredet. Hauptsache du hast deinen unqualifizierten, uninteressanten, dummen Senf dazu gegeben! Du nervst so sehr mit deiner Kinderkacke! Nicht nur, dass du dir ständig am Sack rumfingerst - ehrlich, das ist so unhöflich und so eklig! - und das ständig und gefühlt alle dreißig Sekunden, nein, du benimmst dich wie ein Trampeltier. Jeder Elefant wäre neidisch auf dein Feingefühl und dein Timing, im richtigen Moment das Falsche zu sagen. Alter! Reiß dich doch einfach mal am Riemen! Es ist doch echt nicht so schwer, mal nachzudenken, bevor du dein dummes Maul aufmachst! Ehrlich! Ich mag dich zwar, aber ich kann dich nicht ständig verteidigen. Ich bin es leid von den anderen immer komisch angeguckt zu werden, wenn ich mit dir red und du dich davor mal wieder daneben benommen hast. Ich will das auch nicht mehr!« Jen schien nach ihrem kleinen Ausbruch völlig außer Atem zu sein. Leo starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, während Jen nach Atem rang. Was war das denn jetzt? Aus den Augenwinkeln konnte sie erkennen, dass auch Dan völlig baff zu sein schien. Starrt er ihr etwa auf die Brüste? Leo hob eine Augenbraue und versuchte, Dans Blick zu folgen. Tatsache. Aber Jen’s Busen wogt ja auch wie in den schönsten Historienromanen.
»Wie ... wie kannst du so was sagen?« Olivers Stimme klang piepsig.
Also, Justin Bieber wäre stolz auf ihn. Eindeutig.
»Ganz einfach. Indem ich meinen Mund aufmach und die Worte einfach mithilfe meiner Stimmbänder forme und rausströmen lasse.«
»Und wir setzen uns jetzt alle wieder und beruhigen uns und einige von uns halten jetzt einfach den Rand und so Zeug.« Leo rieb sich den Nacken, bevor sie Jen einen Stoß versetzte, so dass diese auf ihren Platz fiel. Sie warf Oliver einen warnenden Blick zu, der es sich erneut neben Michael gemütlich machen wollte.
Komm schon! Beweg deinen Arsch hier weg!
Oliver schluckte. Leo hob eine Augenbraue, nickte mit dem Kopf zu den freien Plätzen weit von ihnen entfernt und wartete. So schwer kann das ja nicht sein!
Als sich Oliver nicht bewegte, unterdrückte Leo nur mühsam ein Knurren. Himmel! Wie begriffstutzig kann ein Mensch denn sein?!
Bevor er irgendetwas sagen konnte, wandte sie den Kopf und blickte stur aus dem Fenster. Dank der spiegelnden Oberfläche konnte Leo erkennen, dass sich Dan mit seinem Handy beschäftigte und Jen lieber in ihrem Drama-Analyse-Buch las, als sich mit Oliver zu unterhalten.
Ob er sich traut, Michael vollzulabern? Oder hat er wenigstens ein bisschen Schamgefühl und hält sich zurück? Man darf gespannt sein. Wir haben ja noch den Großteil der Fahrt vor uns. Yey!