Dienstag, 8. Oktober 2013

Luisa und die Anderwelt

»Luisa!« Denise, die Hände in die Hüften gestemmt, rief ungeduldig nach ihrer Tochter. Es war ihr erster Schultag - und Luisa trödelte. »Luisa! Beeil dich! Du willst doch nicht an deinem ersten Tag zu spät kommen!«
Denise runzelte verärgert die Stirn. Sie stand mitten auf dem Parkplatz und wartete auf ihre Tochter. Neben ihr stand die dunkelhaarige, stets spöttisch wirkende Nachbarin aus der Erdgeschosswohnung. Im Gegensatz zu der dunklen Erscheinung Theodoras wirkte Denise wie eine helle Flamme: goldblondes Haar, warme, hellblaue Augen und eine Haut wie Porzellan.
»Lass sie doch. Sie hat Zeit. Die Schule läuft nicht davon - und langweilen kann sie sich auch daheim.«
Denise schnaubte. »Du bist mal wieder unglaublich hilfreich, Theo!«

Luisa hüpfte um die Ecke. Ihr erster Schultag! Sie war aufgeregt, so aufgeregt. Was mich wohl erwartet? Sie hatte Theodora aus der Nachbarwohnung von ihrer Schulzeit erzählen hören und freute sich schon unglaublich darauf. Schreiben und lesen lernen! Theo hatte ihr versprochen, wenn sie lesen könne, dürfe sie in ihren Büchern stöbern. In den Büchern, die richtig, richtig alt aussahen. So faszinierend. Ihre Mama wusste davon nichts.
»Luisa! Beeil dich!« Ihre Mama stand vor ihr, die Hände in die Hüften gestemmt. Theo zwinkerte ihr zu und Luisa kicherte.
»Heute ist dein erster Schultag! Wenn du nicht aufpasst, dann kommst du noch zu spät!«
»Lass sie doch, Denise.« Theo legte ihrer Mama die Hand auf den Arm. Luisa lächelte erleichtert. Theo schien sie immer zu beschützen. Als diese vor ihr in die Knie ging, wusste Luisa nicht, was passierte. »Hier, Süße!« Theo knotete ein buntes Band um ihr Handgelenk. »Wünsch dir was! Und wenn das Band abfällt, geht dein Wunsch in Erfüllung. Aber wenn du es abmachst, bevor es sich von selbst lösen kann, so wird dein Wunsch sich umkehren und dreimal so schlimm ausfallen.«
Luisa nickte. Sie kannte das schon. Theo hatte ihr schon einmal ein Freundschaftsband geschenkt. Nur machte ihr der eindringliche Blick Theos Angst.
»Hast du verstanden? Du darfst es nicht selbst abnehmen!«
Luisa nickte erneut.
»Hier. Diese Drei sind für Freunde, die du sicher sofort finden wirst. Und wenn du nach Hause kommst, zeig ich dir, wie man solche Bänder macht.« Theo drückte Luisa drei weitere Bänder in die Hand. Luisa schloss die Finger fest darum, bevor sie den wütenden Blick ihrer Mutter auffing.
»Sie kommt zu spät, wenn du sie weiterhin aufhältst!«
Theo erhob sich, wuschelte Luisa noch einmal durch die Haare und trat dann zur Seite.
»Felix ist schon da! Wir wollten zu viert los!«
Luisa verzog das Gesicht, als sie den verärgerten Ton in der Stimme ihrer Mutter hörte. Sie griff mit ihrer freien Hand die ihrer Mutter und ging mit ihr davon. Zur Schule. Zum allerersten Mal.

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